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Thema: Zwei Monate in Danzig

  1. #1
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    Standard Zwei Monate in Danzig

    Guten Abend zusammen,

    Ulrich fragte mich, ob ich nach meinem zweimonatigem Danzigaufenthalt nicht Lust hätte, meine Eindrücke aufzuschreiben. Da wir nun schon wieder einige Tage zurück in Berlin sind, komme ich gerne darauf zurück.

    Die Idee zu dem Aufenthalt war spontaner Natur und Teil unserer Elternzeit mit unserer kleinen Tochter. Eigentlich waren etwas wärmere Gefilde vorgesehen. Da ich aber Sorge hatte, dass unsere Tochter den Flieger lautstark unterhalten würde, habe ich nach einer Alternative gesucht, die wir von Berlin aus bequem mit dem Auto erreichen konnten und die spannend genug für einen zweimonatigen Aufenthalt wäre. Und so bin ich auf Danzig gekommen.

    Ende 2019 hatten wir bereits ein Wochenende in der Stadt verbracht, in der mein Großvater geboren wurde, und waren schon sehr von der hanseatisch-maritimen Atmosphäre angetan. Ein weiterer Aufenthalt war somit bereits fest im Hinterkopf geplant, jedoch nicht unbedingt im Winter. Meine Sorge, dass wir aufgrund schlechten Wetters mehr drinnen als draußen zubringen würden, war allerdings völlig unbegründet. An einen so schönen sonnigen März kann ich mich wirklich nicht erinnern.

    Auch ansonsten wurden unsere Erwartungen mehr als erfüllt. Ich empfand Danzig als eine sehr junge und lebendige Stadt, die eine ansteckende Aufbruchsstimmung verbreitet. Dies drückte sich auch in der regen Bautätigkeit aus, die in der ganzen Stadt herrschte, sei es am Langen Markt, am Hauptbahnhof, auf der Speicherinsel, an den Ufern der Mottlau, im Hafen oder an der Markthalle. Das Beeindruckende daran war die Geschwindigkeit der Arbeiten, man konnte dem Baufortschritt fast täglich zuschauen.

    Die Gassen der Rechtstadt sind so schön anzusehen, dass wir beinahe täglich ziellos darin herumbummelten. Umso beeindruckter vom jetzigen Zustand waren wir, nachdem wir in der Rathausausstellung eine Reihe von Fotos sahen, die Zeugnis vom Zustand der Verwüstung nach Ende des Krieges ablegten. Seitens der Polen wurde eine tolle Aufbauarbeit geleistet, wenn auch nicht jedes historische Detail exakt wiedergegeben wurde und die Strukturen teilweise vereinfacht sind.

    Gleichwohl hatte ich den Eindruck, nachdem ich mir Originalvideoaufnahmen aus den Jahren vor 1945 von der Rechtstadt angesehen hatte, dass in den Gassen früher mehr Leben zu spüren war, oder besser formuliert, mehr echtes Leben. Die rege Geschäftstätigkeit durch umherströmende Passanten bei ihren Besorgungen oder beispielsweise in der Tram Richtung Niederstadt, diese vibrierende Atmosphäre scheint etwas verloren gegangen zugunsten einer überwiegend touristischen Infrastruktur mit Restaurants, Souvenirgeschäften und Schmuckläden. Das gleiche gilt für die Ufer der Mottlau. Man kann sich heute kaum vorstellen, dass dort in früheren Tagen Fischweiber lautstark den Fang des Tages an Mann und Frau bringen wollten. Dieses Schicksal teilt Danzig mit einer Reihe von anderen Städten. Auch in der Prager Altstadt fragt man sich nach dem siebten Glasgeschäft, ob es denn noch Metzger oder Schuhmacher gibt.

    Besonders spannend fand ich die Niederstadt und das Viertel rund um den Bischofsberg, da dort noch nicht alles glattpoliert ist und sich noch eine Reihe (echter) Altbauten (in teils erbarmungswürdigem Zustand) anfindet. Am Bischofsberg waren teilweise sogar noch deutsche Schriftzüge an den Häusern erkennbar. Es fühlte sich an wie in der Zeit stehengeblieben. Bezeichnenderweise erklärte uns ein polnischer Bekannter auf Nachfrage, dass diese Szenerie gerne für Filmaufnahmen genutzt wird.

    Gegenüber dem Bischofsberg wirkt die Niederstadt deutlich aufstrebender. Neben einigen auf den ersten Blick finster wirkenden Ecken mit verfallenden Bauten gab es auch eine Reihe sehr schön sanierter Häuser. Da wir ein Apartment auf der Speicherinsel gemietet hatten, führte uns unser Weg recht häufig durch die Straßen der Niederstadt und auf den Festungswällen entlang. Ursprünglich dachte ich, es handele sich dabei um Deichanlagen. Mir war gar nicht bewusst, dass wir auf den Festungswällen der Stadt umherliefen. Ich fände es interessant zu erfahren, wie die Anwohnerschaft auf den Wandel des Viertels reagiert. Denn ein höherer Wohnkomfort geht natürlich auch mit steigenden Kosten einher. Das Haus am Thornschen Weg 24, wir haben es das Kensington-Haus genannt, haben wir tatsächlich in einem Immobilienportal entdeckt, wo es für umgerechnet eine Million Euro zum Verkauf angeboten wurde. Gleichzeitig wurden Bestandsmieten von umgerechnet 400 Zloty monatlich erwähnt. Bei einem solchen Mietniveau wäre ein Kauf ziemlich abwegig. Über kurz oder lang wird diese Spannungslage vermutlich zu einer Verdrängung der angestammten Anwohnerschaft führen, was natürlich schade ist.

    Im Hinblick auf die Speicherinsel war ich völlig erstaunt, dass die Sanierungsarbeiten erst nach 2010 begonnen haben. Unser polnischer Bekannter erzählte, dass die Insel bis dahin wie eine Kriegswüste ausgesehen und die Stadt eigentlich dort geendet habe. Ich bin gespannt, was mit den Ruinen der restlichen Bauten am Wasser geschieht. Der ehemalige Schlachthof beispielsweise steht zwar unter Denkmalschutz, ist langsam, aber sicher jedoch am Verfallen.

    Was mir gerade auf der Speicherinsel sehr positiv aufgefallen ist, ist der Versuch, die neuen Bauten dem Speicherhausstil nachzuempfinden, wodurch sie sich trotz ihres modernen, frischen Anblicks gut ins Gesamtgefüge einbetten. Etwas irritiert war ich nur durch den Umstand, dass ein Großteil dieser Wohnungen scheinbar als Ferienwohnungen genutzt wird. Es herrschte ein stetes Kommen und Gehen, zuletzt vor allem bedingt durch den Ukraine-Krieg, so dass eine ganze Reihe von Autos mit ukrainischen Kennzeichen zu sehen war.

    Zwei Monate waren ein sehr guter Zeitraum, um ohne Eile die Stadt samt ihrer entlegeneren Winkel kennenlernen zu können und ihre Atmosphäre auf uns wirken zu lassen. Wir haben eine tolle Zeit dort verbracht und viele neue Eindrücke gewinnen können. Zu Beginn unseres Aufenthaltes hatten wir einen zweiwöchigen Intensivsprachkurs Polnisch absolviert, was uns in die Lage versetzte, uns zumindest rudimentär verständigen zu können. In den Restaurants und Cafés der Rechtstadt wäre dies sicherlich nicht erforderlich gewesen, da dort fast jeder gut Englisch sprechen konnte. In der kleinen Bäckerei in der Weidengasse, die leckere Brote oder Rührkuchen im Angebot hatte, oder im kleinen Touristenbüro an der Bastion Aussprung ging es jedoch nur auf Polnisch.

    Das tiefe Eintauchen in die Stadt hat mich allerdings auch nachdenklich gemacht. Ich habe mich vor allem auch deswegen in Danzig so wohl gefühlt, weil die Stadt vom Wasser dominiert wird und der Strand in nur einer Viertelstunde erreichbar ist. Es vermittelt alles ein starkes Gefühl von Weite und Freiheit. Dazu dieses intensive Licht, dass deutlich heller als in Berlin ist. Ich frage mich, was es mit einem macht, wenn man eine solche Heimat gezwungenermaßen verlassen muss und bedauere es sehr, meinen Großvater zu seinen Lebzeiten dazu nicht befragt zu haben. Er landete nach einer Zeit der Kriegsgefangenschaft in Norddeutschland, wo er meine Großmutter kennenlernte und mit ihr der Arbeit wegen nach Rheinland-Pfalz zog. Dort bin ich auch aufgewachsen. Die Gegend ist von Bergen und Tälern geprägt, recht pittoresk, allerdings für mein Empfinden auch eng und gedrungen. Der Kontrast zu seiner Heimatstadt hätte somit kaum größer ausfallen können. Vielleicht liegt genau darin die Antwort, denn andernfalls hätten meine Großeltern auch später wieder zumindest in Richtung Norden ziehen können.

    Dies alles motiviert mich jedenfalls zu versuchen, mehr über die Geschichte meines Großvaters in Erfahrung zu bringen. Ich habe noch Kontakt zu einer seiner Nichten und in den Hinterlassenschaften meiner Großmutter müssten sich auch noch einige Informationen zusammentragen lassen. Vielleicht lässt sich damit etwas Licht ins Dunkel bringen.

    Ich kann jedenfalls sagen, dass ich mich ein Stück weit in Danzig verliebt habe und auf jeden Fall wiederkommen werde.

    Einen schönen Start in die Woche und herzliche Grüße aus Berlin
    Nathalie

    P.S.: Fotos reiche ich noch nach... Leider bin ich mit dem Hochladen bislang gescheitert.

  2. #2
    Forum-Teilnehmer
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    Standard AW: Zwei Monate in Danzig

    Vielen Dank für diesen Bericht, Nathalie. Es machte Spaß, ihn zu lesen. Es ist ja auch "mein" Viertel, das du so genau beschreibst. Dem Verfall des übriggebliebenen "alten" Danzigs kann man von Jahr zu Jahr zusehen. Ja, jung und lebendig, das stimmt. Vielleicht fällt das noch mehr auf, weil jetzt keine Touristenzeit ist. Die Elternteilzeit in Danzig zu verbringen, na, wenn das nicht etwas Besonderes ist. Und eine gute Idee. Muss ich mal an meine Enkeltöchter weitergeben. Für später...
    Schöne Grüße, Christa aus der Fleischergasse.
    Auge um Auge- und die ganze Welt wird blind sein.
    (M. Gandhi)

  3. #3
    Forum-Teilnehmer Avatar von Fischersjung
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    Standard AW: Zwei Monate in Danzig

    Hallo Nathalie,
    zum hochladen von Bildern musst du erst freigeschaltet werden.
    Siehe hier:
    http://forum.danzig.de/showthread.ph...r+freischalten
    Viele Grüße von Joachim

  4. #4
    Administratorin Avatar von Beate
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    Standard AW: Zwei Monate in Danzig

    Guten Abend zusammen,

    danke schön, Nathalie für den ausfühlichen Bericht..bin gerade nochmal durch Danzig gelaufen...schön war's!

    Schau mal HIER, da hatte ich mal ne Art Gebrauchsanweisung für's Forum geschrieben.
    Freigeschaltet bist du ja, sollte hoffentlich klappen, Bilder mögen wir nämlich gern anschauen...

    Fröhliche Grüße, Beate
    ..wirklich? Taktgefühl ist nicht nur ein Begriff in der Musikwelt?

  5. #5
    Forum-Teilnehmer
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    Themenstarter

    Standard AW: Zwei Monate in Danzig

    Vielen Dank für die Tipps, Joachim und Beate. Werde mir die Anleitung durchsehen und es morgen noch einmal probieren.

    Viele Grüße
    Nathalie

  6. #6
    Forum-Teilnehmer
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    Themenstarter

    Standard AW: Zwei Monate in Danzig

    #2: Ich weiß ja nicht, wie alt die Enkeltöchter sind, Christa, aber es lohnt sich bestimmt irgendwann ;-)

    Im Nachhinein sind wir eigentlich recht froh, im Winter dort gewesen zu sein, da die Stadt ohne Touristenmassen wahrscheinlich deutlich entspannter zu besuchen war. Hinsichtlich der alten Ruinen stellt sich schon die Frage, wie es dort weitergehen soll. Einige Speicherhäuser sind wunderschön saniert, gleich daneben ist es am Bröckeln und am Bröckeln... Würde mich schon interessieren, woran das liegt, ob ggf. die Eigentümerverhältnisse ungeklärt sind, die Denkmalschutzauflagen zu streng sind oder die Investitionssummen zu hoch, es gibt ja eine Reihe denkbarer Ursachen für diesen Zustand.

    Viele Grüße
    Nathalie

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