Aus "Unser Danzig", 1958, Heft Nr.15, vom 01.08.1958, Seite 16-17:
Von der Versippung Vogelsangs
Wer war mit wem verwandt?
von Hans Werner
Gehen wir weiter ins Dorf hinein, das Haff entlang, so kommen wir wieder an Häuser, die sich zusammengelagert haben, einmal drei, ein andermal sechs, als wollten sie in dieser Einsamkeit aneinander Schutz haben. Fragen wir nun einmal nach den Namen der Bewohner, dann tönt uns entgegen: Wellm, Wellm, Wellm, Modersitzki, Modersitzki, Modersitzki, Popall, Popall, Popall. Mit diesen drei Namen ist die Hälfte des Dorfes erfasst. Nehmen wir noch drei dazu: Bandeck, Kohnke, Harder, dann wissen wir von drei Vierteln der Einwohner den Namen. Die anderen Namen kommen vereinzelt vor.
Zeigt sich darin nicht eine große innere Verwandtschaft? Dazu einige Zahlen: Seit 1730 lebten (bis 1940) in Vogelsang 1804 Menschen. Davon sind in Vogelsang selbst 89 v.H. geboren. Es gibt keinen Einheimischen in dieesm Dorfe, der nicht mit einem anderen Einheimischen über mehrere Urahnen mehrfach verwandt ist.
Wenn nur in 60 Gewschwisterreihen, die bis zur achten Generation nicht miteinander verwandt wären die Ahnen zählten, kämen wir auf 7680 Ahnen. Wenn man davon nur die Hälfte erfassen könnte, brauchte man immerhin noch 3840 Vorfahren.
Durch die Verkartung der Nehrungschen Kirchenbücher durch Professor Dobers-Elbing uns seine Studenten war es möglich, in Vogelsang füt 60 Geschwisterreihen die Hälfte der Ahnen bis zur achten Generation zu erfassen, namentlich und verwandtschaftlich festzulegen. Dabei erleben wir nun die Tatsache, dass die 3840 Ahnen, die bei Nichtverwandtschaft nötig und dagewesen wären (bei Erfassung der Hälfte), auf sage und schreibe 110 Vorfahren zusammenschrumpfen. Eine ungeheuer starke Versippung!
Gefahren der Versippung?
Nach den Erfahrungen soll soche Ahnendichte verschiedene Gefahrenquellen in sich schließen, und damit entsteht die Frage, wie stark sie sich in Vogelsang ausgewirkt hat.
Je einsamer ein Dorf liegt, je abgeschlossener seine Bewohner leben, um so eher werden sie Ehen in der Verwandtschaft abschließen müssen, weil sich andere Heiratsmöglichkeiten nicht ergeben.
Nun ist die Lage dieses Dörfleins man möchte sagen der "Entsippung" günstig gewesen, d.h. in jeder Generationsfolge zogen Menschen von außerhalb zu. Die meisten, die von der westlichen Seite her auf die Nehrung kamen, blieben in Bodenwinkel hängen, von wo aus sie immer noch Verbindung mit der Welt hatten. Wer weiter landeinwärts zog, tat es meistens zur Probe. Konnte er Fuß fassen, blieb er, vermochte er der Einsmakeit keinen Reiz abgewinnen, zog er wieder fort.
Wenn er blieb, dauerte es natürlich eine Weile, bis er von der Gemeinschaft, deren Vorfahren seit Jahrhunderten hier verwurzelt waren, aufgenommen wurde. Die Kinder, die heranwuchsen, wurden aber immer eher untgereinander vertraut als die Erwachsenen; darum ergab es sich, dass bei ihnen zuerst das Vorurteil gegen die Neuzugezogenen schwand und diese sogar mehr zur Ehe begehrt wurden als die Einheimischen.
Dadurch wurde der Blutstrom immer wieder aufgefrischt und die Gefahren der Inzucht durch ihre Auflockerung behobe,
Spaßige Folgen der Versippung
Kam jemand in das Dorf hinein, der mit den Zuständen dieser Art nicht vertraut war, konnte er erleben, dass auf seine Fragen mit Achselzucken geantwortet wurde. Welchen von den Wellms, welchen von den Modersitzkis, welchen von den Popalls will der Fremde sprechen? Und erst nach vielem Hin und Her vermochten ihm die Angesprochenen die gewünschte Auskunft geben. Hätte er die Sondernamen gewusst, wären sie im Nu einig geworden.
Lebten doch im Nachbardorfe zur gleichen Zeit mehrere Menschen die Johann Bahr hießen. Kam der Postbote mit einer Geldforderung, dann schob einer sie immer auf den anderen, sodass schließlich der Absender das Geburtsdatum hinzufügen musste. Wurde aber der Empfänger eines rosa Liebesbriefchen gesucht, beschlagnahmte dieses jener Bahr, der zuerst gefragt wurde.
Darum mussten die Sondernamen sein, Sondernamen, keine Spottnamen, sie dienten nur zur Unterscheidung. Hin und wieder schimmerte ein wenig Spott hindurch, aber niemand nahm es übel, und jeder wurde nur mit diesem Namen auch Fremden gegenüber benannt.
In ihrer Gesamtheit gaben sie einen guten Einblick in das Wesen des Dorfes und seiner Einwohner.
Im "Grunde", der einzigen tiefgelegenen Stelle des Ortes, auf der ein Anwesen stand, wohnte der "Grundsche Otto" mit seiner Familie, deren Mitglieder auch den Zunamen des Grundes trugen. An der "Grenze", die wir ja schon auf unserer Wanderung kennengelernt haben, hauste der "Grenzscher". Da es einen "Schworten" und einen "Voß" gab, konnte man annehmen, dass diese Haarfarben eben nur einmalig vorkamen, die übrigen Bewohner also blond sein mussten, was auch zutraf. Der "Schulmeister" war nicht etwa der Lehrer des Dorfes, sondern ein bejahrter Fischer, dem das Schicksal verwehrt hatte, in seiner Jugend den Lehrerberuf zu ergreifen. Aber dem "Professor" haftete ein wenig Spott an wie auch dem "Leutenant". Der "Kurjer", der alte Gastwirt, mag seinen Namen der Kurrigkeit verdanken. "Plejer", der andere Gastwirt, trug diese Bezeichnung nache einem früheren Gendarm, der wohl auf die Bevölkerung einen großen Eindruck gemacht hatte.
Jene Sondernamen nun sind am interesantesten, die von irgendeinem Ereignis aus dem Leben der Menschen abgeleitet wurden. Einzelne mögen hier verzeichnet sein.
"Kuckuck"
Die Dörfler waren nicht durch Reichtum ausgezeichnet, den zu erwerben war Land und Beruf nicht geeignet. Die Winterstürme, die die Häuser umheulten, kühlten mächtig die Stuben aus. Wenn man auch alle Fenster mit Moos abdichtete, um den kalten Winden den Zutritt zu verwehren, blieb immer noch das Problem des Heizens offen. Kohlen konnte und wollte man nicht kaufen, da man den Wald dicht vor der Tür hatte. Aber auch Holz war teuer. Man blieb auf die dürren Äste angewiesen, die zu holen jedermann Erlaubnis hatte. Aber es war zu wenig für so viele. Außerdem stand manch eine dürre Krabuschke im Tann, die doch nicht weiterwuchs und allen ins Auge stach. Es kam nur darauf an, sie zu gegebener Stunde, d.h. wenn mand den Förster nicht im Revier wusste, zu holen. Gefahren lauerten immer am Wege, und Vorsicht war besser als Nachsicht.
Nun gab es im Dorfe einen kleinen Jungen, der meisterhaft täuschend den Kuckucksruf nachahmen konnte. Dieses Können machte man sich zunutze. Er musste, wenn man auf Holz ausging, auf einen Baum klettern von dem aus er weit in die Runde schauen konnte. Die anderen gingen "an die Arbeit". War nun Gefahr im Verzuge, erscholl das verabredete Kuckuckszeichen, die Leute ließen alles Gerät versteckt liegen und ergingen sich lustwandelnd im Walde, bis die Gefahr wieder vorüber war.
Von der Zeit an bekam der Fischerjunge den Beinamen "Kuckuck" und hat ihn auch bis heute behalten.
"Der Achtbeinige"
Es war zu jener Zeit, da man sich noch mühen musste, die wandernden Dünen durch Bepflanzung aufzuhalten und ihre Wanderlust einzudämmen. Jeden Morgen fuhr ein Wagen, beladen mit Material und bepackt mit den helfenden Menschen, vom Dorfe los weit zu den Dünen hin. Die Wege waren sandig, und die Wagenräder mahlten sich tief hinein, sodass das Gefährt nur langsam vorankam.
Das behagte einem jungen Fischer nicht. Wenn die Fahrt losgehen sollte, griff er zu einem Stecken und machte sich hurtig auf den Weg. Immer war er früher an Ort und Stelle, dass er schließlich des Wartens müde wurde und erst viel später losging, wenn der Wagen schon längst unterwegs war. Immer noch kam er zur rechten Zeit an. Auf dem Heimweg machte er es nicht anders, ging seiner Wege statt zu fahren und behielt das Tempo sein Lebenlang auch bei anderen Wanderungen bei. War es ein Wunder, dass dieses Verhalten ihm den Namen "Der Achtbeinige" eintrug?
-----
Die Veröffentlichung dieses Artikels erfolgte mit freundlicher Genehmigung des "Bundes der Danziger" in Lübeck.
Weitere Verwendungen / Veröffentlichungen bedürfen der ausdrücklichen Genehmigung durch den Rechteinhaber:
Bund der Danziger
Fleischhauerstr. 37
23552 Lübeck
Bei vom Bund der Danziger genehmigten Veröffentlichungen ist zusätzlich ist die Angabe "Übernommen aus dem forum.danzig.de" erforderlich.
-----
Viele Grüße aus dem Werder
Wolfgang