Aus "Unser Danzig", 1951, Heft Nr.10, vom Oktober 1951, Seite 8:
Auf Westerplatte auf und ab
Von Richard Hartwig
„Es war einmal“, so lautet der Anfang jedes Märchens. Für die nach dem ersten Weltkriege herangewachsene Generation mag es auch wie ein Märchen klingen, soweit sie nicht den begeisternden Schilderungen über die Westerplatte von Vater oder Mutter gelauscht haben.
Es war wirklich einmal, da die Westerplatte alle Sommerlust und -freude des Danzigers fast allein verschenkte und selten einmal enttäuschte. Was konnte es denn auch Schöneres geben als die leicht erreichbare, willkommene Entspannung auf jenem köstlichen Kleinod, das Danzig vor mehr als 250 Jahren als Geschenk des Meeres in Besitz nehmen konnte und lange, lange Zeit mit ihm nichts anzufangen wusste. Aber die Natur wies den Danzigern den Weg und in der Forst- und Hafenbauverwaltung fand sie willige Helfer. So erwuchs das öde, trostlose Eiland zwischen Strom und Meer zu einem wahren Wundergarten, der Jahr für Jahr schöner und reicher seine Reize zur Schau stellte und rief: „Kommt alle ich will euch erfreuen“.
Unseren „Alten“ ging der Ruf nicht so leicht ins Herz. Aber die Danziger Dampfschifffahrt- und Seebad-Aktien-Gesellschaft Weichsel“ hatte ihn gehört. Sie pachtete im Jahre 1887 den Grund und Boden vom Fiskus, errichtete ein Warmbadehaus, baute das bescheidene Kurhaus weiter aus, legte eine Strandhalle an und einen Seesteg, der den stolzen Namen „Kaisersteg“ trug, den aber eine einzige schwere Sturmnacht im Januar 1913 völlig in Stücke schlug. Vor allem jedoch ließ die „Weichsel“ Dampfer fahren, sogar viele Dampfer. Und wenn sie es nicht schaffen konnten, die Menschenmassen auf der Langen Brücke schrumpfen zu lassen, schaffte sie Motorboote und Schlepper herbei. Alle halbe Stunde zogen dann, mit oder ohne Musik, die schweren Frachten zu jenen Wundergarten, der sich Sonntag um Sonntag mit fröhlichen Menschen füllte; und doch gab es in der Weite und Breite des Idylls am Hafeneingang genug der stillen Winkel, wo zwei wirklich allein sein konnten.
Von den Wegsteinen des Glückes und des Leides, die in der Geschichte der Westerplatte verzeichnet stehen, sind der jüngeren Generation nur die des Leides näher bekannt. Sie wollen wir heute einmal vergessen und sehen, was auf einem der alten Steine des Glückes zu lesen ist. Vierzig Jahre sind darüber vergangen. Ein sonnenheller, warmer Juni-Sonntag war es. Lange bevor die ersten Dampfer mit den Frühaufstehern an der Haltestelle Westerplatte anlegten, lag das blühende Eiland unter den Liedern eines vielstimmigen Vogelkonzerts, denn der ausgedehnte Nadel- und Laubwald mit dem reichen Unterholz bot den gefiederten Sängern Nahrung in Hülle und Fülle. Die herrliche Kastanienallee, die in das sommerliche Paradies hineinführte, verstreute den letzten Blütenhauch über die ersten Gäste, die sich darauf im freundlichen Kurhaus den köstlich duftenden Bohnenkaffee munden ließen.
Die Sonne nahm unterdessen den breiten, feinsandigen Strand liebevoll in die Arme; der erste spielfreudige Kinderfuß, aller Kleidung ledig, tat einen Freudensprung. Wie wohlig warm es schon war, wie kosend weich der perlende Sand durch die Finger rann. Dann kam das erfrischende Bad in kräftiger Brandung; anschließend ein wohltuendes, langes Dösen beim Sonnenbad. Müde machte es, aber wunschlos glücklich. Die Befriedigung körperlicher Wünsche gab zu jener Zeit keine Rätsel auf.
Mittag rückte heran. Man lag immer noch mit ausgebreiteten Armen im Sande. Plötzlich weit draußen von See her der Sirenenstoß eines unserer Kriegsschiffe. Flugs in die Kleider und auf der Ostmole (sie waren zu jener Zeit für jedermanns Lust offen) den einlaufenden Schiffen entgegen, um Zeuge eines Schauspiels zu sein, das den Danziger niemals unberührt ließ, denn seinen blauen Jungs war er von Herzen zugetan.
Die Nachmittagsstunden brachten den Beweis, dass die Westerplatte den Namen „Danziger Volksbad“ mit Recht verdiente. (Heubude war verkehrstechnisch noch nicht erschlossen.) Spiel- und Sportplätze, Strand und Seesteg hatten Massenbesuch. Machen wir uns auf zu einem Bummel durch die Herrlichkeiten des mit wohl gepflegten Promenadenwegen durchschnittenen Wald- und Parkgebiets. Recht einladend war ein schattiges Plätzchen unter den Linden der Strandhalle, wo die „kühle Blonde“ winkte. Wenn man später am Rande des fiskalischen Geländes entlang zog, kam man an den reich blühenden Heckenrosen- und stark duftenden Holunderbüschen schwer vorüber. Auf ein Weilchen legte man sich ins Gras, um zu träumen. Libellen sirrten, Hummeln summten und wiegten den Träumer in den Schlaf, der nie von längerer Dauer sein konnte, denn einen lästigen, wenn auch unpolitischen Störenfried hat es immer dort gegeben. Das war das in allen Verfolgungskünsten trefflich geschulte Heer der Mücken, denen nichts köstlicher erschien, als Menschenblut.
Einen Blick in den Hafenkanal zu tun bummeln wir westwärts. Ein Schild vor einem Kaffeegarten lockt uns heran. „Hier können Familien Kaffee kochen!“ lesen wir an der gern besuchten Raststätte „Cafe Plantage“. Hinter dickbauchigen, braunen, unergründlichen Kaffeekannen und einem Berg von Kuchen saß hier die verschworene Gemeinschaft der unentwegten Kaffeetrinker, miteinander befreundete Familien mit allem Anhang und Nachwuchs. Das lebhaft bewegte Hafenbild lieferte ausreichenden Gesprächsstoff, falls der Faden der Familienerlebnisse einmal abreißen sollte.
Die Sonne hatte nach Neufahrwasser hinüber gewechselt. Der Kurgarten mit seinen alten, breit schattenden Bäumen wird für den Rest des Tages zum Ruheplatz erkoren. Das gediegene Kurkonzert der flotten Militärkapelle ist in vollem Gange. Beim schäumenden Bier oder einem blinkenden Pokal feurigen Rebenblutes wird man stiller Genießer oder andächtiger Hörer der edlen Frau Musika. Spät kommt die Nacht. Der Glutball der scheidenden Sonne versinkt in den Waldgründen der Pelonker Höhe, im Kurgarten erglühen künstliche farbige Lichtbänder zu feenhafter Pracht, da die „Große Schlachtmusik von Saro“ vorbereitet zur grandiosen Schau des abschließenden Feuerwerks, das vor den dunklen Waldwänden in märchenhafter Schönheit bei krachendem Donner, funkelndem Blitz und sprühenden Kaskaden unter dem Zischen aufsteigender Raketen alles bis zum letzten Funken gefesselt hält.
Mit den Menschenmassen, die spät abends sich zur Heimfahrt zusammen fanden, ist der Weichseldienst auch fertig geworden; aber Geduld musste man manchmal haben. Wer bis zum letzten Boot die Abendruhe des Sommerdorados noch auf sich wirken lassen wollte, lief die Gaststätte an der Bootsbaude als Nothafen an; wer es dennoch versäumte, hatte den Trost, mit dem Fährboot, dem „Ruckter“ nach Neufahrwasser hinüber zu gondeln, um sich von Straßen- oder Eisenbahn nach Hause schleppen zu lassen.
Während der Mond mit seinem milden Silberlicht die kurzen Nachtstunden der sommerlichen Westerplatte überzog, lagen die Besucher des Tages in süßem Schlummer, um beim Erwachen am Morgen dankbaren Herzens zu bekennen: „Herrgott, wie war es gestern schön!“
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Wolfgang