Aus "Unser Danzig", Heft Nr.1, vom 01.01.1957, Seite 2:
Die Geschichte der Sperlingsdorfer Schule
von Franz Moeller, Kiel, Muhliusstraße 99
„O du Heimatflur, lass in deinen seligen Raum mich noch einmal nur entfliehn im Traum!“ Wenn wir diesen Vers in unserer Jugend sangen, berührte uns sein wehmütig trauriger Inhalt kaum; denn wir hatten ja unsere Heimat, die wir für unverlierbar hielten. Aber heute greift mir dieser Vers ans Herz, wenn ich an mein liebes Sperlingsdorf und an seine Schule denke. Mein Heimatdorf liegt mitten in der fruchtbaren Danziger Niederung an der Mottlau. Mit seiner Schule ist mein Leben aufs innigste verknüpft. Acht Jahre lang habe ich dort die Schulbank gedrückt, und zehn Jahre später zog ich als junger Lehrer in das alte Schulhaus ein.
Doch nun will ich zunächst über die Geschichte der Sperlingsdorfer Schule berichten. Im Jahre 1815 kam der erste ordentliche Lehrer an die Schule, bis dahin hatten Predigtamtskandidaten, die den Gottesdienst an der Kapelle versahen, sie betreut. Es ist wohl so, wer einmal in Sperlingsdorf heimisch geworden ist, kann sich nicht so leicht von ihm trennen. Jedenfalls trifft das auf seine Lehrer zu. Von 1815 bis 1937, dem Jahre meiner Pensionierung, also in 122 Jahren, hat Sperlingsdorf nur vier Lehrer gehabt. Der erste Lehrer hieß Scheibe. Seine Nachfolger waren Lose, Zur und meine Wenigkeit.
In dem Schultagebuch des Kollegen Scheibe habe ich mit großem Interesse gelesen. Er hat es noch mit einem Federkiel geschrieben, Oft erwähnt er, dass er die Federkiele für seine Schüler zugeschnitten hat. Vom Jahre 1821 berichtet Scheibe: „Das Schulhaus sollte instand gesetzt werden. Während dieser Zeit musste der Unterricht in der Kapelle stattfinden. Da ging das Schulhaus eines Tages in Flammen auf. Die Gemeinde setzte sich so tatkräftig für den Wiederaufbau ein, dass vor Antritt des Winters das neue Schulhaus bezogen werden konnte.“ Scheibe ist in Sperlingsdorf gestorben.
Sein Nachfolger Lose hat nur wenige Jahre das Schularmt versehen. Er war nämlich halsleidend und deshalb gezwungen, aus dem Schuldienst zu scheiden. Lose wurde dann Deichrentmeister und verlegte seinen Wohnsitz nach Klein-Zünder. Trotz seines Halsleidens ist er neunzig Jahre alt geworden. Er hat mich noch in meiner Schule besucht. Herr Lose war damals ein großer, hagerer Mann und hatte ein ehrwürdiges Aussehen.
Der dritte Lehrer, Albert Zur, ist 1857 oder 1858 nach Sperlingsdorf gekommen. Meine Eltern sind zu ihm zur Schule gegangen, und er ist auch acht Jahre lang mein Lehrer gewesen. Mit tiefer Dankbarkeit und Verehrung denke ich noch heute an ihn. Er war auch mein lieber Onkel Zur; denn er hat die Schwester meines Vaters geheiratet. Unvergesslich ist mir sein Religionsunterricht geblieben. Sein Lieblingsfach war die Geographie. Darin hat er mir einen Anschauungsunterricht erteilt, wie er wohl kaum einem Schüler zuteil werden kann. Als ich vierzehn Jahre alt war, nahm er mich mit auf einer Rundreise durch das große deutsche Vaterland. Obgleich das schon 68 Jahre alt ist, sind mir viele reizende Episoden im Gedächtnis geblieben. Eine davon möchte ich erzählen: Von Cuxhaven nach Bremerhaven fuhren wir mit der Pferdepost. Unter den Fahrgästen war eine Dame, mit der mein Onkel ins Gespräch kam. Von ihr erfuhren wir, dass wir durch das Wurstener Land fuhren. Die Stadt darin heißt Dorum. Die Dame entpuppte sich als die Redakteurin der „Wurstener Zeitung“. Als sie in Dorum ausstieg, gab sie ihrem Gesprächspartner die neueste Nummer ihres Blattes. Da sagte mein Onkel scherzhaft: „So, Franz, jetzt können wir ein echtes Wurstblatt lesen.“
In den 40 Jahren seiner Lehrtätigkeit in Sperlingsdorf hat mein Onkel sich die Liebe und Dankbarkeit seiner Gemeinde erworben. Am Schluss des Jahres 1897 trat er in den Ruhestand. Da er nach Danzig übersiedeln wollte, löste er seinen ländlichen Haushalt auf und veranstaltete eine kleine Auktion. Nach deren Beendigung blieb er mit einigen Nachbarn im Schulzimmer bei angeregter Unterhaltung beisammen. Da kamen durch die offene Tür zwei riesige Doggen herein, Ihnen folgte ein großer, stattlicher Herr mit grauem Zylinder. Es war Herr von Tiedemann, der Besitzer des Gutes Herrengrebin, Er überreichte dem scheidenden Lehrer ein Paar goldene Manschettenknöpfe mit herzlichen Dankesworten, weil dieser viele Jahre lang in der Herrengrebiner Burgkapelle bei den Gottesdiensten die Orgel gespielt hatte. Die Schulgemeinde bereitete ihrem verehrten Lehrer eine erhebende Abschiedsfeier. In Danzig ist er im Alter von 72 Jahren gestorben.
Als vierter Lehrer in Sperlingsdorf trat ich 1898 mein Lehramt an. Es war ein eigenartiges Gefühl für mich, jetzt in demselben Schulraum zu unterrichten, in dem ich noch vor zehn Jahren als Schüler gesessen hatte. Dastanden noch dieselben wackeligen Bänke. Oft blickte ich zu dem Platz, auf dem ich zuletzt gesessen hatte. Da sah ich auch die Anfangsbuchstaben meines Namens, die ich einst als unnützer Junge in das alte Holz geschnitzt hatte, das war mir jetzt recht peinlich, da ich doch meinen Schülern diese Unart nun kaum verbieten konnte.
Zehn Jahre habe ich als Junggeselle in dem alten Schulhause gewohnt und schlecht und recht meine Pflicht als Lehrer erfüllt. Ich machte einen Obstbaumkursus mit und habe mich dann der Obstbaumzucht gewidmet. So legte ich mir eine kleine Baumschule an und hatte nun Gelegenheit, meine Schüler praktisch zur Veredelung und Aufzucht der Obstbäume anzuleiten. Mit noch größerem Eifer widmete ich mich der Bienenzucht. Meinen Bienenstand vergrößerte ich allmählich auf 30 Völker. Sie haben mir meistens reiche Ernten gebracht. Sperlingsdorf ist wirklich „das Land, darinnen Milch und Honig fließt“. Selbstverständlich habe ich auch meine Schüler praktisch in das wunderbare Leben der Bienen eingeführt.
1908 kam dann endlich mein Hochzeitstag, Am 9. Juni war es, da trat ich mit meiner früheren Schülerin Sabine Nickel in unserer lieben, alten Kapelle vor den Traualtar. Mein Schwiegervater wohnte damals schon als Deichhauptmann in Danzig. Die Bewirtschaftung seines Grundstücks hatte er bereits seinem einzigen Sohn übergeben. Nun zog frisches Leben in das alte Schulhaus ein. Meine Frau übernahm den Handarbeitsunterricht. Im Laufe der Jahre wurde sie der gute Geist in der Gemeinde. Bei Krankheitsfällen und bei Verletzungen hat sie stets tatkräftige Hilfe geleistet und sachgemäße Ratschläge erteilt.
In ruhiger Arbeit flössen die Jahre dahin. Bis zum ersten Weltkrieg wurden uns drei Kinder geschenkt. In den ersten Kriegsjahren musste ich außer meiner Schule auch die im Nachbardorf Schönau betreuen. Das war kein leichter Dienst. Und doch erfüllte ich meine Pflicht gern, weil ich mir sagte, dass jeder Deutsche seine ganze Kraft einsetzen müsste, um zur siegreichen Beendigung des Krieges beizutragen. Wie konnte ich damals ahnen, dass es anders kommen würde.
1920 kam die Freistaatzeit und mit ihr ein Familienzuwachs. Zwillinge wurden uns geschenkt, ein Schwesterchen und ein Brüderchen. Jetzt wurde unsere Wohnung zu klein. 1921 bekam das nun gerade 100 Jahre alte Schulhaus einen massiven Anbau. Nur ungern hat sich der Schulverband zu diesem Erweiterungsbau entschlossen, doch ein Neubau war schon längst fällig. Der wurde dann endlich 1928/29 ausgeführt. Am 2. September 1929 fand die feierliche Einweihung statt. Herr Schulrat Bidder hielt die Festrede.
Als bald darauf das alte Schulhaus abgebrochen wurde, da empfand ich doch eine stille Wehmut und Trauer, so wie man von einem trauten Freunde Abschied nehmen muss. Es ist aber nicht ganz in Vergessenheit geraten, denn ich habe ein Lichtbild der alten Schule hinüber gerettet. Außerdem besitze ich noch ein Foto der neuen Schule und ein drittes, das beide Gebäude darstellt, die sich ja eine gewisse Zeit gegenüberstanden.
Im neuen Schulhause war nun die Raumnot endgültig behoben. Das Schulzimmer war hoch, hell und geräumig. Da konnte ich nun etwas unternehmen, was im alten Schulhause nicht möglich gewesen war, nämlich Weihnachtsfeiern veranstalten. Sie sind mir noch heute eine liebe Erinnerung an die Heimat.
Acht Jahre wohnten wir noch in dem neuen Schulhause. Da haben wir 1933 unsere Silberhochzeit feiern können. Ja, und dann kam die Nazizeit. Sie brachte Uneinigkeit in die Gemeinde und Unruhe in die Schularbeit. Ich kam mit dieser Zeit nicht mit. Auf meinen Antrag wurde ich zum 1. Oktober 1937 in den Ruhestand versetzt und siedelte mit meiner Familie nach Ohra über. Ein Vierteljahr später hätte ich mein vierzigjähriges Ortsjubiläum feiern können.
Mein Nachfolger wurde der junge Kollege Hermann Decker. Auch er wäre gewiss in Sperlingsdorf heimisch geworden. Er machte es nämlich genauso wie ich und heiratete eine Sperlingsdorfer Bauerntochter. Der Krieg hat auch sein junges Eheglück zerschlagen. Er fiel an der Ostfront und hinterließ seine Witwe mit zwei Kindern. Von Kriegsbeginn an haben dann Vertreter den Unterricht in Sperlingsdorf erteilt. Erschütternd ist für mich die Tatsache, dass Sperlingsdorf keine Schule mehr hat. Zwar das Schulgebäude steht noch an der Mottlau. Aber dadurch, dass die abziehenden deutschen Truppen 1945 die Mottlaubrücke gesprengt haben, ist es von der Gemeinde getrennt. Die Kinder gehen nach Herrengrebin zur Schule. Damit hat die Geschichte der Sperlingsdorfer Schule 1945 ihr absolutes Ende erreicht. Oder sollte vielleicht dereinst doch eine Fortsetzung erfolgen und deutsche Kinder wieder in Sperlingsdorf zur Schule gehen? Diese Frage stellen heißt, sie mit heißem Herzen bejahen.
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Wolfgang