Eine kleine Heilig-Abend-Satire

Saspe, Mittwoch, 24. Dezember 2008

"Wolfgang, morgen früh müssen wir um 8:00 Uhr beim Bäcker sein sonst dauert es wieder ewig in der Schlange", forderte mich Kinga gestern Abend auf als sie mit einem gerade eingekauften duftend-frischen Brot zum Abendessen erschien.

Polen ist ein Land der Traditionen. Und gerade zu Weihnachten leben sie auf. Heilig Abend werden mindestens zwölf verschiedene Speisen aufgedeckt, ein Stuhl und ein Gedeck werden an jedem Tisch für unerwartete Besucher freigehalten. Der ganze Abend ist besinnlich, ruhig, einfach schön - nichts ist mehr zu spüren von der Hektik mit der der Morgen begann.

Natürlich ist es später geworden. Um 8:00 Uhr ist gerade der Tee aufgebrüht, das Butterbrot gestrichen. Erst danach geht's zum Bäcker, viel zu spät natürlich. Eine weitere sehr liebgewonnene Tradition, weniger eine christliche als eine vermutlich aus kommunistischen Zeiten stammende, ist das weihnachtliche Schlangestehen nach Brot. Was wäre Weihnachten wenn man nicht frierend mit triefender Nase und tränenden Augen vor dem Bäckerladen Schlange stehen dürfte?

So auch dieses Jahr vor Weihnachten. Wir stehen wieder einmal Schlange vor unserem Sasper Bäcker. Es scheint nicht weiterzugehen. Klar, warum auch? Die paar angelieferten Brote sind stets in Minutenschnelle ausverkauft. Und dann dauert es wieder ein halbes Stündchen bis der nächste Lieferwagen zwei, drei Körbe Brot bringt.

Die Schlange reicht nun mittlerweile bis zum Eck des Häuserblocks. Auf der gegenüber liegenden Straßenseite gibt es auch einen Bäcker. Wartende aus unserer Schlange schielen argwöhnisch über die Straße, ob der vielleicht noch Brot hat. Es ist lausig kalt und Kinga fragt mich, ob ich nicht vielleicht hinübergehen wolle. Vorsichtshalber. Man wisse ja nie, ob man nicht vielleicht umsonst anstünde. Und wenn wir uns in zwei Schlangen anstellten, ginge es vielleicht schneller. Ich will aber nicht.

Tja, die liebgewonnenen Traditionen. Ich frage Kinga, warum sie gestern Abend nicht mehr Brot eingekauft habe. "Nein, nein", sagt sie, "gut und frisch muss es sein!" Wir unterhalten uns über das letzte Jahr. Da standen wir über zwei Stunden Schlange. Immer wieder war das Brot ausverkauft. In diesem Jahr ist es aber viel besser. Es ist nicht ganz so lausig kalt.

Alle Jahre wieder kommt pünktlich am Morgen des Heiligen Abends das große Bedürfnis auf, frisches Brot zu kaufen. Und alle Jahre wieder pünktlich am Morgen des Heiligen Abends wird offensichtlich die ganze Bäckerinnung davon vollkommen überrascht. Wir lachen als wir uns an letztes Jahr erinnern. Als wir gut durchfrostet endlich in die Bäckerei kamen, fragten wir uns bangen Blickes, ob für uns noch etwas übrig bliebe. Zwei Sorten Brot lagen in den sonst leeren Regalen. Schöne runde Brotlaibe, Mischbrot, und dann noch verschrumpelte Weißbrote. Direkt vor uns ein nettes Muttchen. Als sie an die Reihe kam, zeigte sie mit dem Finger auf die rundlaibigen Mischbrote: "Vier Brote sind noch da? Ja, die vier nehme ich!" Zu uns gewandt sagte sie strahlend, sie brauche eigentlich nur ein oder zwei, aber nachdem sie nun schon stundenlang Schlange stehe, nehme sie Brot auch für ihre Kinder mit, man wisse ja nie... Wir hatten nun die Wahl, entweder wieder ein halbes Stündchen zu warten oder die Weißbrote zu nehmen. Es war die Sorte, die aussieht wie alte Schuhe, sich anfühlt wie Gummi und schmeckt wie Pappe. Als ich Kinga sage, wir hätten sie seinerzeit eigentlich nur in Klopsen verarbeiten können, müssen wir wieder lachen.

Wir massieren uns die Hände in der vergeblichen Hoffnung, sie dadurch ein bisschen wärmer zu bekommen, trampeln wie Elefanten auf gefrorenen Gehsteigpfützen um den Blutkreislauf in unseren Eisbeinen und Füßen anzuregen. Ich frage Kinga, ob es nicht vielleicht doch besser gewesen wäre, bereits gestern das Brot zu kaufen. "Nein, nein, Wolfgang, wir müssen im nächsten Jahr nur viel früher aufstehen damit wir wirklich um 8:00 Uhr beim Bäcker sind", antwortet sie.

Meine Finger werden klamm und klammer, mein Kugelschreiber mit dem ich mir fortwährend Notizen mache, friert ein. Vor uns noch höchstens sechzig, siebzig Wartende. Prima, mit einem bisschen Glück wird uns in einer halben Stunde das Brot zugeteilt. Wenn es nicht vorher aus ist...

Und wenn wir es dann haben, das Brot, geht's gleich mit einer anderen Tradition weiter. Der Konditor wartet. Denn seitdem immer weniger Hausfrauen eigenes Gebäck fertigen, wird es eben beim Konditor gekauft. Ein kleiner Trost: Die Schlangen werden dort nicht ganz so lang sein. Aber wir werden mindestens genauso lang warten müssen, weil es jeden Käufer viel Zeit kostet, aus den schier unzähligen Kuchen, Keksen, Törtchen, Pasteten genau das auszuwählen was man gerne möchte.