Aus "Unser Danzig", 1956, Heft Nr.6, vom März 1958, Seite 18:

Die Mattenbuder Brücke
von Karl-Hein Jarsen

Im Frühling, wenn Schnee und Eis geschmolzen waren, Stürme tobten, trüb graue Regenwolken sich über Danzig wälzten und zuweilen ihre feuchte Last entluden, glich die sonst so zahme und friedliche Mottlau einem reißenden Strom, brauste, Strudel bildend, gegen die Brückenpfeiler und schwoll Tag für Tag. In den Mattenbudener Kellern stieg das Grundwasser knöchelhoch. Alle Mieter, mit leeren Konservenbüchsen, Schaufeln und Eimern „bewaffnet", trabten die Kellertreppen hinab und begannen ihre Schöpfarbeit.

Nach und nach wurde die Mottlau wieder ruhig; der schmutzbraune Wasserspiegel sank bis unter die Betonplattformen der Brückenpfeiler. Sonne und Föhn regierten. Die Besitzer der fest vertäuten Wohnprähme am Kai sägten, hobelten, flickten die Bordwände, pönten sie, wenn es not tat. Ihre Frauen spannten Wäscheleinen, trugen Körbe herbei. Palettenbunt flatterten Blusen, Röcke, Hemden, Strümpfe. Die Möwen vergaßen ihren Hunger, hockten auf dem Brückengeländer, sonnten sich. Stoben aber weg, als ein Frachtdampfer die Brücke passierte. Abends, von irgendeinem Prahm, ertönten Akkordeonmelodien, heimatlich vertraut, wehten hoch zum sternblinkenden Lenzhimmel.

Bollwerk und Kai waren Tummelplätze der Mattenbudener Jungen. Zu jeder Jahreszeit. Jetzt spielten sie Kauffahrer und Piraten. Sprangen aufs Bollwerk, zückten ihre hölzernen Messer, Beile, Kistenbrettersäbel, fletschten die Zähne, balancierten, hieben und stießen durch die Luft. Dabei verlor einer der bedrohten Kauffahrer das Gleichgewicht, plumpste ins Wasser. Ausgerechnet Heini, der nicht schwimmen konnte. Hanne, der Piratenhäuptling, von zwei Kameraden gehalten, bückte sich, reichte sein Holzbeil. Heini, der rasch hoch kam, strampelnd, prustend, schnaufend, griff zu. Gerettet! Bis die triefnassen Kleider trockneten, kauerte Heini in paradiesischer Nacktheit unter der Kaitreppe, vor profanen Blicken geschützt. Er fror. Die Kinnladen klapperten. Dennoch besser als eine Tracht Prügel, tröstete er sich. Die Eltern zu Hause merkten nichts, obwohl Hemd und Hose zerknittert waren.

Hin und Wieder angelten die Knaben. Biegsamer Weidenstock, Bindfaden, selbst gebogener Krummhaken, drauf gespießt ein fetter, sich windender Regenwurm, - das war ihr Angelgerät. Außer Kleinzeug fingen sie so gut wie nichts. Die Katze daheim überlegte, ob es sich überhaupt lohnte, eines dieser Fischchen zu fressen.

Je nach der Witterung nahmen die Jungen ihr erstes Freibad, natürlich unter der Mattenbudener Brücke, manchmal schon Anfang Mai. Dort zu baden war polizeilich verboten. Was kümmerte es sie! Verbot? Haha! Die Mutigsten machten einen eleganten Kopfsprung von der Brücke herab. Schupos, falls sie vorüber stiefelten, drückten beide Augen zu, schmunzelten. Dachten sie an ihre eigene Kindheit?

Im Herbst erwarb Hanne einen winzigen Kahn, schloss das klaffende Leck am Kiel, teerte ihn, schnitzte zwei kurze Paddel. Als Begleiter wählte er seinen engsten Freund Heini. Das Ziel ihrer ersten viel versprechenden Paddeltour hieß Krampitz. Sie kamen bis zur Thornschen Brücke. Erreichten, fieberhaft paddelnd, mit beiden Füßen im kalten, unentwegt quellenden Mottlauwasser platschend, das Ufer. Der Kahn soff ab. „Glück gehabt!" grinste Hanne.
Es wurde Winter. Nach mehreren Schneefällen trat der Frost seine Herrschaft an, presste die Wohnprähme gegen das Bollwerk, ließ die Möwen hungrig krächzend um die Mattenbudener Brücke kreisen. Passanten, warm vermummt, warfen ihnen zerbröckeltes Brot zu oder Kuchenkrümel. Die Jungen jedoch drehten auf der Natureisbahn Mottlau Kurven, Schleifen, Pirouetten.

Später, wenn schnittige Eisbrecher ihre Ramm- und Sägearbeit getan hatten, liefen sie Schollchen,, weil es gefährlich war, Mut und Taktik erforderte.

Die Mattenbudener Brücke schaute zu. Und nachts träumte sie vom Frühling, der ja in jedem Jahr Föhn brachte, Sonnenglanz, auch Akkordeonklänge, lustig flatternde Wäsche. Sie träumte, lauschte, wartete.

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Wolfgang