Aus „Unser Danzig“, 1960, Heft Nr. 04, Seite 15, vom 20. Februar 1960

Fräulein Kummer
von Marianne Stoehr

In der „Höheren Mädchenschule“ von Neufahrwasser läutete die Glocke nicht, wie es in den anderen Schulen die Regel ist, um 8 Uhr; schon 5 Minuten vor der vollen Stunde rief sie uns täglich vor Schulbeginn zu einer gemeinsamen Morgenandacht zusammen. Wenn wir den Singsaal betraten, nebenher bemerkt war dieser nur ein einfacher Klassenraum, stand Fräulein Kummer, unsere Schulvorsteherin, bereits mit der aufgeschlagenen Bibel in der Hand auf dem Pult und prüfte mit strenger Miene über die Brillengläser hinweg die anwesenden Schülerinnen. Sie war von mittelgroßer Figur, eine schlichte, vornehme Erscheinung. Ihr noch dunkles krauses, in der Mitte des Kopfes schon etwas dünnes Haar trug sie geradeüber gekämmt und hinten zu einem kleinen Zopf aufgesteckt. Das Gesicht mit der etwas breiten Nase konnte nicht als schön gelten; jedoch ihre tief liegenden grauen Augen, unter buschigen Augenbrauen musterte sie scharf ihre Umwelt, darüber die edel geformte Stirn, kennzeichneten einen intelligenten Menschen. Ihre nach Reformschnitt gearbeiteten, an der Hüfte eng anliegenden Kleider, mit den nach unten schräg erweiterten Rockbahnen, waren alle nach dem gleichen Muster. In der Regel kleidete sie sich schwarz, nur ab und an von sandfarbenen Tönen abgewechselt. Der hohe Stehkragen mit weißem Rüschchen und die engen langen Ärmel charakterisierten ihr streng verschlossenes diszipliniertes Wesen.

Wir sangen zur Andacht zum Anfang und Schluss eine Choralstrophe mit Harmoniumbegleitung; dazwischen las Fräulein Kummer einen kurzen dem Kirchenjahr entsprechenden Abschnitt aus der Heiligen Schrift. Der tägliche Gesang in der Morgenandacht war für mich eine herzerfrischende Angelegenheit, und wenn zur Weihnachtszeit die alten schönen Weisen der Advents und Weihnachtschoräle erklangen, dann begann der Tag immer in einer frohen erwartungsvollen Stimmung.

Fräulein Kummer hatte schon fast das 60. Lebensjahr erreicht, als wir unter ihrer Leitung unsere Schulzeit beendeten. Nie hatten wir indessen die Empfindung, einen alten Menschen vor uns zu haben. Ihr vielseitiges Wissen und Können, ihre feine Einfühlungsgabe, ihre große Liebe zur Jugend erhielten ihren an Enthaltsamkeit gewöhnten Körper in Elastizität und gaben ihr jugendfrische Spannkraft.

In der Kriegszeit, als der Lehrermangel spürbar wurde, übernahm sie in den zwei obersten Klassen außer Deutsch und Französisch auch den Unterricht für Geschichte und Erdkunde. Da wir in den oberen Klassen nur wenig Mädel waren - in unserem letzten Schuljahr in der ersten und zweiten Klasse zusammen nur neun -, wurde der Unterricht in den einzelnen Fächern zum großen Teil zusammengelegt. Hatten wir aus Raummangel vielfach in einem Zimmer ihrer Privatwohnung, im ersten Stock des Schulgebäudes, unsere Stunden, gestaltete sich der Unterricht zu einem intensiven Austausch zwischen ihr und den Schülerinnen. Wir hatten den höchsten Respekt vor ihr und waren immer redlich bemüht.

Lange Zeit war für mich einer der beunruhigsten Träume, bei Fräulein Kummer Französisch zu haben und nicht vorbereitet zu sein, was in Wirklichkeit nie vorgekommen war. Wenn sie uns in der fremden Sprache für die fremden Dichter, wie Molière, Rassin, Viktor Hugo, zu begeistern suchte, so fiel ihre Mühe auf keinen unfruchtbaren Boden. Wie aber glänzten unsere Augen und glühten unsere Wangen, wenn sie mit beredten Worten, die aus tiefster Seele drangen, mit uns durch den deutschen Dichterwald streifte.

Eingehend und intensiv behandelte sie mit uns das Leben unserer beiden großen Klassiker Schiller und Goethe. Wie gut verstand sie es, uns mit begeisterten Worten ein umfassendes Bild von Goethe zu gestalten. Mit inniger Zärtlichkeit schilderte sie sein Verhältnis zu den verschiedenen Frauen und deren Einfluss und Befruchtung auf sein künstlerisches Schaffen. Sie konnte dabei so in Feuer geraten in gläubiger hoher Bewunderung zu dem Genie. Mir wollten nun gerade diese Dinge als kleinem Mädchen nicht recht einleuchten, und lieber hörte ich von Schiller und seiner Charlotte erzählen. Für Schillers „Glocke“ verstand sie unsere Herzen zu gewinnen, und mit Eifer lernten wir sie von Anfang bis zum Ende auswendig. Sie erzählte uns, wie ihr Vater, ein Berliner Universitätsprofessor, auf Wagenspazierfahrten von seinen drei Töchtern die „Glocke“ hersagen ließ. Sie ist ein Dokument des Lebens für den denkenden Menschen. Mir hat das Auswendigsagen der „Glocke“ einst in schweren schlaflosen Krankheitsnächten über den Berg geholfen.

Viel schönen und reichen Gewinn bergen die Erinnerungen an die deutsche Lektüre bei Fräulein Kummer. Wir begannen die Wallenstein-Trilogie zu lesen, als gerade in einer lauen Sonnenwendnacht im Weichselmünder Wald unsere Wandervogelbrüder „Wallensteins Lager“ einem andachtsvoll lauschenden Zuhörerkreis in vollendeter Weise dargeboten hatten. „Und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein.“

Kaum zwei Monate danach standen wir vor dem folgenschweren ersten Weltkrieg. In den Geschichtsstunden verband Fräulein Kummer die Kriegsereignisse mit dem eigentlichen Unterrichtsstoff in genialer Weise; sie lehrte uns den Einblick in das umfassende Ganze. Die Erdkundestunden wusste sie interessant zu umrahmen, indem sie dem sachlichen Namengerippe blühendes Leben einzuhauchen verstand. Meine Lieblinge, die deutschen Aufsätze, wurden mir unter ihrer Führung zu kleinen Kunstwerken. Wie durchdrungen von innerster Überzeugungskraft und stark fesselnd der Unterricht bei Fräulein Kummer sich gestaltete, zeigt wohl am besten der Umstand, dass auch die Schülerinnen oft unwillig, und zwar bei den Stunden in ihrem Privatzimmer, das meistens so heiß ersehnte Klingelzeichen zur Pause aufnahmen.

So aufgeschlossen mitreißend und lebhaft Fräulein Kummer als Lehrerin vor uns stand, auch manchmal sogar im heiligen Zorn ihre grauen Augen Feuer sprühten über die „wüüste Bande“ oder der Ausruf „Pfui, pfuiiiii!“ - ihre einzigen drastischen Ausdrücke - über uns hinweg grollten, so fremd, so kühl und verschlossen blieb sie in jeglichem Privatleben. Etwas unsicher, verlegen stand man in solchen Augenblicken ihr gegenüber. Nie werde ich den Nachmittag vergessen, an dem wir Mädel in der Schule Weihnachtspäckchen für die Soldaten gepackt hatten und danach mit Fräulein Kummer zusammen still und stumm Kaffee tranken. Keiner wagte zu sprechen, und das hörbare Knacken der röschgebackenen Kuchenplätzchen erzeugte in uns einen leichten Lachkitzel, den wir mühsam zu unterdrücken suchten. Die verlegene Stille wurde ihrerseits von keinem erlösenden Wort überbrückt. In öffentlichen Veranstaltungen außerhalb der Schule wehte bei Fräulein Kummers Erscheinen immer ein eisiger Hauch der Abwehr. Nur in der Schule und in ihrem sonnig freundlichen, mit grünen Blattpflanzen geschmückten Arbeitszimmer, wenn sie zwischen Stapel von zu korrigierenden Heften saß und man Schulangelegenheiten zu besprechen hatte, taute das Eis, und ein Mensch von Herzensgüte und Bildung gewann das Vertrauen seines Zuhörers. Dann fand sie Zeit, über Bücher und geistige Dinge ein angeregtes Gespräch anzuknüpfen, wenngleich die Menge der angehäuften Hefte ihr wieder eine Nachtarbeit kostete. Wie oft berichtete die treue Schulhaushälterin, Frau Panitzki, dass Fräulein Kummer wieder die Nacht durchgearbeitet habe. Nicht umsonst erzählte sie uns in der Geschichtsstunde von Friedrich dem Großen, dass er als alternder Mensch nur drei Stunden Schlaf brauchte. Wir sahen in ihm das Vorbild für sie. Sie gehörte zu den starken Menschen, die in ihrer Arbeit für die Allgemeinheit volles Genügen finden. Ihr persönliches Erleben trat in den Hintergrund. Freud und Leid verstand sie in heldischer Tapferkeit allein zu tragen und zu meistern.

Meine Mutter stand zeit ihres Lebens mit Fräulein Kummer im Briefwechsel, und ich las gern die noch bis ins hohe Alter gleichmäßig deutlich, schön geschriebenen handschriftlichen Zeilen, aus denen ein reger Geist und besonnene Klugheit den Leser ansprachen. Sie gewährten auch Einblick in ihr späteres Leben, wie sie nach ihrer Pensionierung wiederum nach Berlin, ihrer Heimatstadt, zurückkehrte, um dort mit ihren zwei älteren Schwestern und nach dem Tode der einen, mit der anderen zusammen zu leben. Selbst schon im hohen Alter, umhegte sie die Kränkelnde in treuer schwesterlicher Liebe. Im Sommer reiste sie alljährlich nach Danzig und verlebte einige glückliche Tage an ihrer vergangenen Wirkungsstätte. Dort traf ich sie zum letzten Mal an einem sonnigen Sommertag an unserer schönen blauen Ostsee.

Vom Winde verweht ist durch des zweiten Krieges Wirren mir ihres Lebens Spur. Ich weiß aber, dass auch sie, trotz allem furchtbaren Menschenleiden, das über uns gekommen, selig heimgegangen ist. Vor den beiden Bildern der Ephigenie von Feuerbach und dem dornengekrönten Christuskopf von Dürer, die mir aus mancher Unterrichtsstunde in ihrem Privatzimmer vor Augen stehen, und in deren Anblick ich mich unwissend oft vertiefte, beuge ich nun in stillem Gedenken mein Haupt.

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Viele Grüße aus dem Werder
Wolfgang