Frühling 1945.
In den Wäldern hatte wir uns versteckt.
Ich wusste nicht, warum, denn ich war ein kleines Kind. Immer in Tuchfühlung zur Mutter. Bis dahin war doch alles schön. Ich hatte Geschwister und Papa und Mama. Papa war nicht im Krieg, denn er war krank. Ich merkte es nicht, aber ich wusste auch nicht, dass andere Väter im Krieg waren. So freute ich mich, wenn wir sonntags zu den Großeltern nach Dirschau fuhren. Oder an den Strand. Oder nach Renneberg. Oder ich spielte vor dem Haus in der Fleischergasse mit Mausi, meiner liebsten Freundin. Einmal hopste ich ganz allein bis an die nächste Straßenecke. Huch, war da ein Verkehr, und schnell peesd ich zurück .Mama wollte nicht, dass ich so weit wegging vom Haus. Meine Oma war bei uns in der Wohnung. Manchmal bekam sie Besuch, dann kam Tante Pauline die Treppe hoch, setzte sich auf den Stuhl neben der Tür, plachanderte ein Weilchen, und dann ging sie wieder fort, das alte Muttchen mit den dunklen Röcken. Oder war es eine Pellerine? Tante Pauline hat mir immer viel von den Engeln im Himmel erzählt.
Nun war das alles so anders. Aus dem Schlaf wurden wir gerissen, wir Kinder, weil wieder Fliegeralarm war. Dann schnell schnell alle angezogen, die Großen die Kleinen, und runter in den Luftschutzkeller. Ich muss die Zeit wohl verschlafen haben, denn davon weiß ich nichts mehr. Einmal saßen alle Einwohner das Hauses voller Angst im Schankraum des Gastraumes zusammengedrückt.. Die Russen kommen! Das Geschrei der Frauen habe ich noch im Ohr. Mit zerfetzten Kleidern kamen sie aus dem anderen Raum.
Als wir wieder in unserer Wohnung waren, kamen immer wieder Russen an: Uri ! Uri dawei..
Dann kam ein russsicher Soldat oder Offizier und gab meinen Eltern den Rat, sofort aus der Stadt zu gehen und sich zu verstecken., es würde noch schlimmer werden.
Nun kam eine Nacht oder zwei im Wald nach St. Albrecht.
Es war eine wunderschöne Nacht, ein ganz klarer Himmel, die Sterne leuchteten.
Und der Himmel wurde glutrot. Danzig brannte. Die Erwachsenen, es waren mehrere, weinten schrecklich.
Als wir am Tag wieder in die Fleischergasse kamen, war unser Haus, die Nummer 37, weg.
Alles weg. Es stank ganz so unheimlich .Die Nachbarhäuser standen, aber waren verlassen. So gingen wir in irgendeine hinein. Alles war durcheinander gewühlt, zerstreut.. Im Haus an der Ecke, wo der Frisör Schimmelpfennig seinen Laden hatte, da gingen wir hinein. Ich wollte nicht, denn da lag eine Leiche im Flur. Und da musste ich immer dran vorbei. Die Leiche wurde abgedeckt mit einer hellblauen Steppdecke.
In der Stadt konnten wir nicht bleiben, denn da waren wir gar nicht sicher. Bloß raus.
Wir gingen nach Oliva. Und in der Rosengasse waren Gärten und feste Gartenhäuser. Auch alles von den Eigentümern verlassen. Hier blieben wir also den Sommer über. Nicht in der Sommerfrische, denn der tägliche Kampf um Nahrung muss hart gewesen sein.
Wir erkrankten an Ruhr. An Typhus. Nacheinander. Mein Bruder hatte so schweres Nasenbluten, dass meine Mutter nur noch weinte aus Angst. Dann wurde sie selbst krank. Ich glaube, sie wurde von den Nonnen im Kloster gepflegt. Diese Nonnen haben schwer gelitten beim Einmarsch der Russen. Sie haben ausgeharrt bei ihren Kranken, und sind übel zugerichtet worden. Ein Gedenken an ihre Leiden , gibt es das?
Schließlich kam die Aufforderung: Entweder für Polen optieren oder raus.
Meine Mutter wäre gern geblieben, denn ihre Eltern und Geschwister waren in Dirschau. Aber der Vater wollte nicht. Und so sind wir dann alle im Viehwaggon hinaustransportiert worden. Mein Vater hat seine Heimat nicht wieder gesehen, denn er starb 1947.
Meine Mutter besuchte Dirschau noch mal, aber da lebte ihre Mutter nicht mehr.
Und bin ich in Danzig, gehe ich auch nach Oliva.
Rosengasse.
Dies meine Erinnerungen in losen Gedanken, aber nicht gedankenlos.
Viel Fragen wurden mir im Leben beantwortet, aber nicht alle.
_____
Christkind