Aus „Unser Danzig“ Nr. 20 vom 20.10.1987, Seiten 11-13

Der „Brodstein“ zu Oliva
von Dr. Heinz Lingenberg

Ein Holzschnitt, dessen Vorlage H. Merte zeichnete, ein Unbekannter mit den Initialen M. V. als Holzstich ausführte und den die Gebrüder C. und N. Benziger 1883 als Verleger druckten, trägt den Titel: „Der Brodstein zu Oliva“ - mit der alten Schreibweise eines „d“ beim Wort Brot. Das fein gestochene und sehr lebendig wirkende Blatt führt uns in die Welt einer alten Sage, deren Handlungsplatz das Kloster Oliva und seine Umgebung, die Handlungszeit die Jahre um 1387 waren, als über das Land der Hochmeister des Deutschen Ordens, Konrad Zöllner von Rothenstein herrschte. Überall litt man, wie es im Mittelalter nicht selten vorkam, aufgrund von Missernten bittere Hungersnot, nur in der Zisterzienserabtei Oliva hatte man dank guter Vorratswirtschaft noch genug zu essen. Aber die frommen Mönche behielten die wertvolle Nahrung nicht nur für sich, sondern teilten freigebig an Hungernde und Bedürftige, die an ihre Türe klopften, aus.

Zu ihnen gehörte auch ein Wanderer - vielleicht ein durchs Land ziehender Schustergeselle aus Wehlau (Ostpreußen) oder ein Jakobsbruder, also ein Pilger, der von der damals beliebten Wallfahrt zum Grabe des hl. Jakob zu Compostella in Spanien zurückkehrte -, dem ein Mönch an der Klosterpforte ein ganzes Brot schenkte. Voller Freude machte er sich auf den weiteren Weg, auf dem er in Ruhe die kostbare Nahrung zu verspeisen gedachte. Unterwegs begegnete er jedoch einer jungen Frau, die ein Kind auf dem Arm trug, ein zweites an der Hand führte. Der Hunger, der auch sie und ihre Kinder plagte, trieb sie dazu, den Fremden um ein Stück Brot zu bitten, hatte sie doch den ganzen Laib unter dem Mantel entdeckt. Unwillig leugnete der Angesprochene zuerst, ein Brot bei sich zu haben, aber als alles Abstreiten nichts half, weil das Gemeinte zu deutlich unter dem Gewand erkennbar wurde, erklärte er der bittenden Frau unumwunden, es handle sich bei dem sichtbaren Stück nicht um ein essbares Brot, sondern um einen Stein, den er bei sich habe, um damit angriffslustige Hunde abzuwehren. Zufrieden, der Bittstellerin mit dieser, wenn auch gänzlich unwahren Auskunft entronnen zu sein, eilte er dem Meeresstrand der Ostsee zu, wo er ungestört das geschenkte Brot verzehren zu können hoffte. Tatsächlich störte ihn nun auch niemand mehr - allein, er fand nun doch nicht das, was er so sehr gehofft und gewünscht hatte. Das Brot widerstand dem Messer - es war zu Stein geworden.

Noch nicht ganz zu Stein geworden war aber sein Herz. So fiel ihm die unwahre Aussage gegenüber der ihn flehentlich bittenden Frau ein. Er erschrak, ging in sich und bedauerte tief sein unbarmherziges Verhalten. Er beließ es auch nicht nur bei Gedanken der Reue, sondern kehrte um, lenkte seine Schritte zurück zum Kloster und erzählte dort, was er getan habe und was ihm widerfahren war. Das zu Stein gewordene Brot gab er den Mönchen zurück, die es annahmen und für alle Kirchenbesucher sichtbar in ihrer Kirche aufhängten - als warnendes Zeichen für andere Hartherzige.

Soweit die Sage, die uns die alten preußischen Historiographen, wie Lukas David, Simon Grünau, Christoph Hartknoch und Caspar Hennenberger - der auch die erste große Preußenkarte zeichnete -, überliefert haben. Hat man diese alte Geschichte im Kopf, so wird das, was der Holzstich darstellen will, sehr rasch verständlich. Der Künstler hat das Geschehen in drei Szenen wiedergegeben und dabei den Anfang nicht oben genommen, sondern nach links unten verlegt - ein Kunstgriff des Zeichners, um die Hauptsache in den zentralen Punkt des Bildes zu rücken, den reuigen Wanderer vor dem steinernen Brot, wie er oben in der Mitte in kniender Haltung sichtbar wird. Den Hintergrund bildelt dabei als einziges historisch realitätsgerechtes Element der ganzen bildlichen Darstellung die Ostsee, denn der vor ihr liegende eingetragene Ort mit einer Kirche - gemeint ist sicher die Olivaer Klosterkirche - hat mit der Realität doch nur wenig gemein.

Links unten hat der Künstler, wie schon bemerkt, die Geschichte beginnen lassen, indem er hier den Wanderer vor einer Nebenpforte des
Klosters zeigt, als ihm ein Mönch einen vollen Laib Brot herausreicht. An der Seite rechts ist in der Mitte die Begegnung der Mutter, die hier nur ein Kind auf dem Arm trägt, mit dem Wanderer in Szene gesetzt. Sind in den beiden ersten Bildern zwei oder mehr Personen dargestellt, so erscheint im abschließenden letzten Bild oben in der Mitte der Wanderer ganz allein - schon dies eine symbolträchtige Aussage des ganzen Bildes, denn nachdem er zunächst von einem anderen Menschen liebevoll beschenkt war, dann einem weiteren in dessen Not begegnet war, ihn aber schroff zurückgewiesen hatte, ist er nun selber ganz allein - mit seinem versteinerten Brot, seinem erschrockenen Herzen und seiner Schuld. Im Gesicht und in der Körperhaltung hat der Künstler die jeweils ganz verschiedene innere Einstellung des Wanderers treffend auszudrücken verstanden. In ehrerbietiger, demütiger und zugleich tief dankbarer Haltung - so lässt es der Holzstich erkennen - nimmt er das Brot aus den Händen des Klosterbruders entgegen, in hochmütiger, keck zur Seite blickender und ganz herablassender Miene wehrt er in der zweiten Szene die flehentliche, mit offener Hand vorgebrachte Bitte der Mutter ab, obwohl er das Brot - so zeigt es das Bild - nicht unter einem Mantel versteckt hält, sondern deutlich sichtbar unter dem Arm trägt. In dieser Form muss seine freche Lüge noch doppelt schwer wirken. Ganz anders erscheint er auf dem letzten Bild oben. Noch eben hoch aufgereckt vor der Frau einherschreitend, ist er jetzt auf die Knie gesunken und hat mit beiden Händen sich an den Kopf gegriffen, den er gesenkt hält - Ausdruck des Schreckens und der Verzweiflung über das, was ihm im Angesicht des versteinerten Brotes klar wird.

Der Künstler hat die Bildaussage noch dadurch zu unterstreichen gewusst, dass er zwischen die drei Szenen ein weiteres Bildelement gesetzt hat. Es ist ein stilisiertes Bäumchen, das von unten durch die Mitte laufend aufragt und dann seine beiden größeren Äste nach den Seiten kehrt. Es dient als kompositorisches Mittel, die drei Bildteile voneinander abzugrenzen, ist aber vom Zeichner zugleich zu einer das Geschehen deutenden Erweiterung des Bildinhalts benutzt worden, indem er in dem Geäst des kleinen Baumes sich eine Schlange emporringeln lässt, die ihren Kopf mit dem geöffneten Maul und der gespaltenen Zunge dem Wanderer gerade in dem Augenblick zuwendet, als er der Frau gegenüber sich aufs Lügen verlegt. Diese Bildsprache und die dahinter, stehende Absicht des Künstlers sind ohne weiteres verständlich. Es ist natürlich die Schlange der biblischen Sündenfallgeschichte (1. Mose, Kapitel 3), die hier ins Spiel gebracht wird und das dargestellte Geschehen symbolhaft unterstreicht.

Die vierte Szene des gesamten Handlungsablaufs der Geschichte - die Rückkehr des bußfertigen Wanderers zum Kloster und die Rückgabe des steinernen Brotes an die Mönche - hat Merte nicht mehr in seine Komposition einbezogen. Aber sie bringt ja auch kein wesentlich neues Handlungselement in das Geschehen hinein und war somit entbehrlich. So erweist sich die bildliche Wiedergabe des Holzstiches als eine durchaus inhaltstreue und leicht verständliche Darbietung der in mehreren Etappen gegliederten alten Sage, die der Künstler insgesamt graphisch geschickt einzufangen wusste.

Es bleibt, noch auf die untere rechte Ecke des Bildes zu blicken, wo, eingeleitet von einer übergroßen Initiale, ein Gedicht einsetzt, das auf der Rückseite des Blattes fortgesetzt wird. Hier hat V.S. Gruppe die alte Sage in Reime gebracht und sie damit für seine Zeit darzustellen versucht. War es die alte Geschichte dabei geblieben oder hat er sie ein wenig „modernisiert“? Hören wir zunächst seine Verse:

Es zog ein Bursch weit aus dem Reich
durch gut' und schlechte Lande;
jetzt wandert er gen Danzig gleich
am fernen Ostsee-Strande:
zur Linken die tiefblaue See,
zur Rechten die vielgrüne Höh'.
Er ruft Oliva seinen Gruß –
Wie ernst die dunklen Zinnen!
Er hofft vor Nacht mit rüst'gem Fuß
die Stadt noch zu gewinnen,
die alte, die berühmte Stadt,
die auch für ihn wohl Arbeit hat.
Er kniet am Bach und schöpft und trinkt,
die Hand ist seine Schale;
ihn hungert, doch das Kloster winkt
im wundervollen Thale.
Er pochet an und heischet Brod,
und wer hier pochet, hat nicht Noth.
Man gibt ihm einen ganzen Laib;
Er sieht die Straß' hinunter,
und singet sich zum Zeitvertreib
ein Schelmenliedlein munter;
führt in sein Brod auch tapfern Schnitt
und wandert leicht an Sinn und Schritt.
Da tritt ein Weib, feucht ist ihr Blick,
mit ihrem Kind entgegen.
Die spricht: „Gib deines Brods ein Stück,
und habe Gottes Segen!“'
Er aber: - gab's der Bös' ihm ein? -
„Es ist kein Brod, es ist ein Stein!“
Sie blickte nur zum Himmel auf,
kein Wort entfloh dem Munde. -
Gott hat im Himmel Rath vollauf
und heilet jede Wunde.
Sie wankte weiter - ungeseh'n,
ihr folgten Engel aus den Höh 'n.
Der Bursch, des Fehls sich schon bewusst,
er sah betreten nieder,
doch als darauf er nun mit Lust
gedenkt des Brodes wieder:
sein Messer schneidet nicht mehr ein,
das Brod ist harter, schwerer Stein.
Geängstet fiel er auf das Knie,
mit inbrunstvollem Beten
gelobend, all sein Leben nie
der Sünde Pfad zu treten.
Und ging des Wegs er weiter fort?
O nein, er kehrt zum heil'gen Ort.
Er pochet an des Klosters Thür,
verlanget nicht nach Gabe –
derselbe Pförtner tritt herfür:
sein Herz will andre Labe.
Er beichtete, er wies den Stein –
dort liegt er noch im Kirchenschrein.

Man spürt es gleich: hier tritt uns nicht die alte Sage in ihrer spröden Herbheit und der harten Bitterkeit einer schroffen Unbarmherzigkeit einerseits, mit dem überraschenden völligen Sinneswandel des Übeltäters andererseits entgegen, sondern die weithin freundliche Geschichte eines fröhlichen Handwerksgesellen, der nur einmal ein falsches Wort sagt, seinen Fehler aber rasch einsieht und ebenso rasch bereinigt - so möchte man den Gesamttenor der in Reime gesetzten neuen Geschichte charakterisieren. Auf jeden Fall ist das ganze Geschehen in die eigene Zeit hineingenommen und aus den Empfindungen und Gefühlen der Gegenwart heraus gestaltet.

Da wird von keiner Hungersnot oder anderen Notständen berichtet, die den Wanderer zum Kloster treibt und die hungernde Mutter mit ihrem Kind zur Bitte um Brot gegenüber dem Fremden drängt. Alles wird in ein friedliches, geradezu idyllisch anmutendes Licht getaucht. Fröhlich zieht hier ein Handwerksbursche durch die Lande, trällert sein Lied, erquickt sich an einem sprudelnden Bächlein, und das nur im Augenblick fehlende Brot zum kühlen Trunk ersetzt - wie selbstverständlich - der Klosterbruder, der auf das Klopfen am Tor sofort dem Fremden ein ganzes Brot reicht. Singend und leichten Fußes kann der Geselle seinen Weg fortsetzen, hat er sich doch gleich eine kräftige Scheibe von dem geschenkten Laib abschneiden können. Freilich kommt nun auch hier in das so harmonische, heitere Bild die Begegnung mit der Mutter und das abweisende Wort an sie: „Es ist kein Brot, es ist ein Stein!“ hinein, aber es ist nur ein kurzer Satz, der gesprochen wird, und nichts wird darüber gesagt, dass die bittere Not des Hungers sie zu ihren Worten an den Fremden getrieben hat. Herrschten aber gute Zeiten im Lande, wie wird jetzt noch das entscheidende Motiv des Wanderers, das Geschenkte unbedingt allein für sich zu behalten, und das Verlangen der Frau nach einem Anteil daran erkennbar und verstehbar? Die abschlägige Antwort des Wanderers, ja, seine massive Lüge muss doch absolut unverständlich werden, wenn es sich um eine normale Friedenszeit handelte und alles an sich genug vorhanden war.

Wird der grobe Fehltritt des Handwerksgesellen - von einem Pilger redet die Dichtung ja nicht - und sein Motiv dafür in dieser Weise kaum mehr begreiflich, so lässt Gruppe seine Umwandlung auch schon unmittelbar nach dem schroffen Wort an die Frau beginnen: „Der Bursch, des Fehls sich schon bewusst, er sah betreten nieder.“ Also nicht erst der Anblick des versteinerten Brotes bringt ihn zur Einsicht und Umkehr, sondern beides setzt schon unmittelbar nach dem Gespräch mit der Frau ein. Dann aber war das böse Wort nur eine Augenblicksregung, ein momentaner Versager. Dementsprechend zeigen auch die folgenden Verse ihn als einen schnell zu Reue und ernster Buße bereiten Mann: „Geängstet fiel er auf die Knie, mit inbrunstvollem Beten gelobend, all sein Leben nie der Sünde Pfad zu treten“ - als ob er nicht gerade eben diese Pfade betreten hätte! Wie sehr hier zu harmonisieren, das Ungute und Schockierende rasch zu glätten und der fehlsame Wanderer als dennoch guter, frommer Mensch darzustellen versucht wird, ist deutlich genug. So ist die Härte der alten Sage weitgehend aufgehoben, sind wesentliche Elemente ihres Inhalts - dass das ganze Brot zu Stein wird und der Sünder erst über diesem Ergebnis seiner Tat zur Einsicht und Buße findet - eliminiert worden. Aus dem herben Geschehen ist in den Versen von Gruppe eine eher rührselige Geschichte geworden, weil hier fast ebenso wie mit der Mutter Mitleid mit dem Irrenden erregt wird. Offenbar waren dem Autor der „Umdichtung“ der alten Sage - anders kann man es kaum nennen - der bittere Ernst und das volle Gewicht des rücksichtslosen Verhaltens des Wanderers nicht mehr recht erkenn- und nachvollziehbar. Überspitzt formuliert, könnte man dem Ergebnis der Neufassung die Überschrift geben: „Der Fehltritt eines fröhlichen, frommen Handwerksgesellen und dessen rasche Bereinigung“. Die eigentliche Geschichte reicht in tiefere Dimensionen und behält - trotz aller Reue des Delinquenten - ja auch ein ungutes Ende: das Brot bleibt im Stein und darum ungenießbar. Gewiss will die Sage nicht den vereinzelten Fehltritt eines Menschen anprangern. Das Verhalten des Menschen im allgemeinen und speziell in Notzeiten, sein Streben, gerade dann nur für sich zu sorgen und allein an sich zu denken, seine Neigung, sich hartnäckig dagegen zu sträuben, das auch ihm nur Geschenkte mit anderen zu teilen, seine darin sichtbare Undankbarkeit und - die Antwort Gottes auf solche Undankbarkeit und Unbarmherzigkeit des Menschen, das wollte die alte Geschichte sinnfällig ausdrücken. Dabei symbolisiert das zu Stein gewordene Brot unübersehbar das steinerne Herz des Menschen, seine Hartherzigkeit, die sich dem Nächsten gegenüber verschließt.

Es verwundert nicht, dass angesichts dieser allgemeinen Bedeutung der Geschichte sie in ganz ähnlicher Form auch an anderen Orten aufgekommen ist und erzählt wurde. So gab es in Danzig noch eine zweite Stelle, an der sich Ähnliches wie in Oliva abgespielt haben soll - und auch diese Erzählung einer alten Sage mag der Leser im Danziger Sagenbuch von F. A. Brandstäter, einst Professor am Städtischen Gymnasium zu Danzig (erschienen Danzig 1886, Neudruck Hannover 1969), nachlesen.

Da hatte, so wird von einem Stein in der Aller-Heiligen-Kapelle in der Danziger Marienkirche berichtet, sich ein Franziskanermönch in einer schweren Hungersnot für Geld oder durch Betteln ein Brot zu verschaffen gewusst: Er trug es verborgen unter seiner Kutte und eilte damit zum Kloster. Ein armes, hohläugiges Weib mit einem Säugling auf dem Arm sah ihn jedoch unterwegs und bat ihn: „Ehrwürdiger Vater, schenkt mir und dem Kind einige Brosamen, wenn Ihr könnt!“ Aber der Mönch entgegnete ihr barsch: „Was verlangst Du, ich habe in dieser Notzeit selbst nichts zu essen“: „Aber Ihr habt ja ein Brot unter der Kutte, wie ich sehe“, erwiderte die Frau. „Gott stärke Deine Augen, damit Du besser sehen kannst“, sagte der Mönch. „Was Du für ein Brot hältst, ist nur ein Stein, den ich aufgehoben habe, um zudringliche Hunde abzuwehren.“ „Nun denn“, rief die Frau, „so wünsche ich, Gott möge zur Strafe Eurer Hartherzigkeit das Brot zu Stein verwandeln.“ Was sie gewünscht, trat ein. Im Kloster angekommen, hatte der Franziskanerbruder nur noch ein zu Stein gewordenes Brot vor sich.

Wenn sich solche oder ähnliche Erzählungen mehrfach aus den Tagen des Mittelalters erhalten haben, dann kann man hierbei vielleicht auch den Ursprung dieser Sagen erkennen. Es mag sich um ein „vaticinium ex eventu“ handeln, ein Wunder, dessen Prophezeiung aus dem erbetenen Ergebnis abgeleitet wurde, oder anders ausgedrückt, bei dem aus einem seltsam geformten Gegenstand auf seine Entstehung durch ein prophezeites Wunder geschlossen wurde. So könnte aus einem wie ein Brot aussehenden Stein auf seine Verwandlung aus einem wirklichen Brot zurückgeschlossen worden sein. Dieser Rückschluss mochte umso eher naheliegen, als die Verbindung zwischen einem steinernen Brot und dem steinernen Herzen eines nur an sich denkenden Menschen dann leicht herzustellen war.

Bei den mehrfach auftretenden Geschichten über ein zu Stein werdendes Brot handelt es sich also um eine für das Mittelalter typische Beispielerzählung, an der für alle sichtbar die Hartherzigkeit des Menschen und seine Folgen dargestellt werden sollten. „Verba docent, exempla trahunt“ - so sagt ein altes lateinisches Sprichwort: „Worte lehren, Beispiele ziehen“ - sie reißen mit, treiben zur Nachahmung an oder bewahren vor Fehlern. Der „Brodstein“ zu Oliva ist ein solches Beispiel, das nicht nur lehren, sondern durch das böse Ende der Geschichte den Menschen abschrecken und warnen will. In dieser Funktion hat die alte Erzählung uns auch heute noch etwas zu sagen. Denn das gilt doch noch heute: Wo wir unser Herz gegenüber der Not des anderen verschließen, wo wir nicht begreifen, dass auch wir jeden Tag weithin nur von dem, was uns geschenkt wurde, leben (Gesundheit, Begabungen, liebe Menschen um uns usw.), wird für uns auch das, was wir zu besitzen meinen, ungenießbar und wertlos.

-----

Die Veröffentlichung dieses Artikels erfolgte mit freundlicher Genehmigung des "Bundes der Danziger" in Lübeck.

Weitere Verwendungen / Veröffentlichungen bedürfen der ausdrücklichen Genehmigung durch den Rechteinhaber:
Bund der Danziger
Fleischhauerstr. 37
23552 Lübeck

Bei vom Bund der Danziger genehmigten Veröffentlichungen ist zusätzlich ist die Angabe "Übernommen aus dem forum.danzig.de" erforderlich.

-----

Viele Grüße aus dem Werder
Wolfgang