Aus „Unser Danzig“ Nr. 12 vom 20.06.1971, Seiten 11-13

Im Faltboot über die Radauneseen
Von Wilhelm Brauer

Es war ein strahlender Spätsommertag vor dem Zweiten Weltkrieg. Große, weiße Wolken wanderten, wundersamen Luftschlössern vergleichbar, über die stolzen Türme und roten Dächer Danzigs. Da zog es uns zu jenen einsamen Radauneseen, die im Südwesten Danzigs eine eigenartige Seenplatte bilden. Wir beschlossen, mit unserem Klepper-Wanderzweier „Samoa“ eine Faltbootfahrt über die weiten Seen der unvergessenen Heimat zu machen. Oft hatte unser Vater gesungen: „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die Kaschubei.“ Und in der Tat, es ist eine wundersame Landschaft besonderer Art, die sich dem einsamen Wanderer in der „Kaschubischen Schweiz“ darbietet. Gletscher der Eiszeit bildeten den „Uralisch-baltischen Höhenzug“, der sich vom Ural bis nach Holstein erstreckt und der in dem sog. „Turmberg“ mit seinen 333 m in der Nähe von Karthaus seine höchste Erhebung hat. Gewaltige Buchen- und Tannenwälder bedecken die anmutigen Berge. Wie ein gewaltiger Halbkreis umschließt der Kranz der blauen Radauneseen das Städtchen Karthaus, dessen Kloster die deutschen Karthäusermönche einst den Namen „Marienparadies“ gaben. Um seiner vielen Seen willen nannte man jene Seenplatte oft auch das „blaue Ländchen der Kaschuben“. Die Kaschuben bilden einen Volkssplitter jenes pomoranischen Volkes, das einst den gesamten Küstenstrich von Rügenwalde bis Danzig bewohnte und seine eigene, selbständige Sprache besitzt. Hünengräber, Steinkreise und Gesichtsurnen zeigen dem interessierten Vorgeschichtler auf Schritt und Tritt, dass er sich hier auf einem Boden befindet, auf dem seit den frühesten Tagen der Geschichte die Stämme der Ostgermanen (Goten, Vandalen, Gepiden, Burgunder usw.) saßen.


In zwei Rucksäcken und zwei Stautaschen hatten wir unser Klepperboot verstaut. Dann saßen wir endlich im gemütlichen Personenzug, der uns dem Ziel unserer Wanderwünsche näher bringen sollte. Bei Hohenstein passierten wir ungehindert die polnische Passkontrolle. Bald hatten wir das kleine Städtchen Berent erreicht, wo unsere Bahnfahrt ihr Ende fand. Schnell verstauten wir unser Gepäck in eine der bereitstehenden Taxen. Höher schlug unser Herz, als wir auf der Straße nach Stendsitz die Richtung zu den Radauneseen einschlugen. Es war inzwischen Nachmittag geworden. Die Schatten der hohen Linden und Eschen, die die Landstraße umsäumten, spendeten einen wohltuenden Schatten. Wir fuhren durch einen Wald. Bald tauchte zu unserer Linken der erste jener Seen auf, in dem die Radaune entspringt. Unser Auto hielt an. Wir entlohnten den Fahrer, der mit seinem Wagen bald wieder unseren Blicken entschwunden war. Die Stille eines einsamen Sommertages umgab uns. Von der Landstraße zog sich zwischen reifenden Kornfeldern eine Wiese bis zum See hinab. Wir zogen unsere Schuhe und Strümpfe aus und gingen barfuß durch das frische, kühlende Gras. Schnell trugen wir unser Gepäck hinab.

Dann standen wir am Ufer des Sees. Weit erstreckte sich seine blanke Fläche zur Rechten und zur Linken,. Das Schilf am Ufer raunte leise, und Welle auf Welle zerrann am sandigen Ufer. Rasch vertauschten wir unsere Kleidung gegen den leichten Badeanzug. Dann ging es voll brennender Erwartung an den Aufbau unserer „Samoa“. Spante auf Spante fügte sich zum hölzernen Längsgerippe. Dann wurde alles in die „Walrosshaut“ hinein getan und verspannt. Das Boot lag fertig da. Rasch wurde alles Gepäck sowie das Zelt in den geräumigen Bug und in das Heck verfrachtet.

Auf die Rückenlehnen wurden die aufgeblasenen Luftkissen gelegt. Vorne an den Bug setzten wir unsere Islandflagge, die ich von einer Nordlandfahrt mitgebracht hatte. Die Paddelenden wurden ineinander gefügt. Die Fahrt konnte beginnen.

Mit einem Ruck setzten wir unser Boot aufs Wasser, wo es von den Wellen freundlich begrüßt und leicht wiegend in Empfang genommen wurde. Dann schwangen wir uns selber ins Boot hinein, tauchten die Paddelblätter in die kristallklare Flut und strebten durch die duftenden Binsen und rauschenden Schilfwälder dem offenen See zu. Wohltuend empfanden wir den ganzen Reiz dieser Einsamkeit. In smaragdgrüne Wiesen und reifende Felder eingebettet lag der See da. Auf den Höhen der ansteigenden Ufer grüßten die Wälder, die diese ganze Seenkette umschlungen halten. Langsam nahmen wir Kurs auf Westen, wo wir in der Ferne zwischen hohen Bäumen die Dächer und rechts den hellroten Turm der Kirche des Dörfchens Stendsitz erblickten. Hier in der Nähe auf dem Gut Adlig-Stendsitz hatten wir Schüler des Städtischen Gymnasiums Danzig im Jahre 1918 Landarbeit geleistet und den Ausbruch der Revolution erlebt. Schmerzvolle Erinnerungen tauchten auf.

Bald waren wir nahe am Dörfchen. Vor uns erblickten wir zum ersten Male die Radaune, die hier als ganz kleines Bächlein den See verlässt, in dem sie geboren wurde. Sie war selbst für unser Faltboot noch nicht schiffbar. So nahmen wir unsere „Samoa“ auf die Schultern und trugen sie über die Landstraße hinweg. Auf der andern Seite der Straße zieht sich die Radaune unter hohen Erlen etwa hundert Meter durch blühende Wiesen. Dann tat sich vor unsern Blicken der große Radaunesee auf, dessen Fläche etwa 7000 preußische Morgen misst.

Wieder saßen wir in unserm Boot und strebten nun der Mitte dieses gewaltigen und lang gestreckten Sees zu. Eine merkwürdige Stille und Schwüle breitete sich über die endlose Fläche. Wie flüssiges Blei lag der Spiegel des Sees da. Zur Linken ragt ein steiles Ufer empor, das bis zur höchsten Höhe mit Buchenwald bedeckt ist. Kaum konnte man das Dorf Zurromin erkennen, über den Wald hinaus stieg eine weit ausgedehnte dunkle Wolkenwand empor. Langsam verschwand die Sonne hinter den riesig anwachsenden Wolkenbergen. Unbewegt lag die Fläche des Sees vor uns. Von ferne drang ein unheimliches Grollen an unser Ohr. Eines jener schweren Gewitter war im Anzüge, wie sie in dieser Gegend im Hochsommer häufig sind. Ein bedrückendes Schweigen lastete über dem weiten See. Man hörte nichts mehr von den Stimmen der Vögel oder von dem schrillen Schrei der Möwen.

Rasch strebten wir einer niedrigen Insel zu, die sich vor uns erhob. Auf ihr standen nur wenige Sträucher. Wir nannten sie später die „Kanincheninsel“, weil uns dort einmal bei kurzer Rast wilde Kaninchen überraschten, die die einzigen Bewohner dieser Insel waren. Höher und höher stieg die bedrohliche Gewitterwand, aus der in immer rascherer Folge Blitze hernieder zuckten. Wir entschlossen uns, am Ostufer des Sees, nördlich vom Fischerdorf Seedorf, vor dem nahenden Unwetter Schutz zu suchen. Eine trockene Mulde mit sandigem Grund schien uns geeignet zum Landen und Zelten. Ein Windstoß mahnte zu höchster Eile. Die ersten dicken Regentropfen fielen.


Zischend lief der Kiel unseres Bootes auf dem sandigen Ufer auf. Rasch zogen wir es auf den sicheren Strand und trugen es etwa 50 m landeinwärts. Schnell holten wir aus dem Bug des Schiffes unser Klepper-Hauszelt mit allem Zubehör hervor. Dann legten wir das Boot als Sicherung gegen den bereits einsetzenden Regen mit dem Kiel nach oben. In fliegender Eile wurde das Zelt ausgebreitet, mit einem Stein die „Heringe“ als Halt des Zeltes in den Erdboden geschlagen. Die Zeltstäbe wurden in das Zelt geschoben und die Zeltleinen verankert. Es war höchste Zeit. Das Unwetter war da. Geschützt lagen wir nun im Zelt. Auf die Arme gelehnt, schauten wir hinaus auf den See, der einem brausenden Kessel glich. Welle auf Welle erhob sich. Schaum tanzte auf den äußersten Spitzen der Wellenberge. In wenigen Augenblicken veränderte sich das Aussehen des Sees völlig. Welch ein Wechsel in so kurzer Zeit! Wer hätte es diesem See, der eben noch so friedlich da lag, zugetraut! „Wild flutet der See ...“ Gewaltig aber war das Urgeschehen jener krachenden Entladungen des Gewitters. So hatten wir ein Gewitter im sicheren Gehege der Stadt noch nie erlebt. Schroff und unvermittelt war der rasche Wechsel zwischen Dunkelheit und grellster Blitzeshelle. Der Regen rauschte in Strömen hernieder. Ein kleines Rinnsal bildete sich neben unserm Zelt und eilte zum See hernieder.

Das Gewitter selbst kam nicht über den See herüber. Die Seenkette bildete anscheinend ein unüberwindliches Hindernis. Der Radaunefluss, der den lang gestreckten See nach Norden hin durchfloss, leitete das Gewitter nach Norden. Das Unwetter entfernte sich, die Blitze wurden seltener. Nur aus weiter Ferne hörten wir schließlich noch das Grollen. Der Regen ließ nach. Aus dem sich lichtenden Gewölk trat die „goldene Abendsonne“ hervor. Um den Abend ward es licht. Wir räumten alle Sachen aus dem Boot ins Zelt und machten unser Nachtlager fertig. Dann sammelten wir am Rande des nahen Waldes dürres Reisig. Bald schlugen die Flammen aus unserm Lagerfeuer hervor, und wir bereiteten uns unser warmes Abendessen. Die Vögel sangen ihr Abendlied. Wir ließen es uns gut schmecken. Dann saßen wir froh am Lagerfeuer. Die Mundharmonika erscholl. Wir schauten in das leuchtende Abendrot hinaus und erlebten die ganze Schönheit und Herrlichkeit der Schöpfung unseres Gottes. Bald krochen wir in unsere Schlafsäcke. Von draußen hörten wir noch die ungewohnten Laute der Nacht. Dann sanken wir in tiefen Schlummer.

Früh weckte uns die Morgensonne. Die Vögel sangen ihrem Schöpfer ein Loblied, und auch wir stimmten mit ein. Noch funkelte der Tau im Grase, als wir am wärmenden Feuer saßen und den heißen Tee zu uns nahmen. Dann wurde der Kessel im Sand des Ufers blankgeputzt. Schnell war das Zelt abgebrochen und alle Sachen wohl verstaut. Ein kräftiger Stoß führte unser Boot vom Ufer los. Wir tauchten unsere Paddeln in die kühle Flut. Wieder waren wir in unserem Element. Nach kurzer Rast auf der „Kanincheninsel fuhren wir bei Borruschin durch die Unterführung jener Chaussee hindurch, die von Klukowahuta nach Palschau führt, und waren nun in dem dritten der Radauneseen, der sich bis zu dem Dorfe Chmielno hin erstreckt. Wir überraschten einen Fischreiher, der hinter einem Erlengebüsch auf einem Beine stand und tiefsinnig wie ein Philosoph vor sich hin ins Wasser starrte. Er schrak auf, als wir um das Erlengebüsch bogen. Mit lautlosen mächtigen Flügelschlägen entschwand er unsern Blicken.


Gegen Mittag entdeckten wir an dem Westufer des Sees, etwa gegenüber vom Dorfe Schnurken, eine wunderbare kleine Bucht, die uns wie ein schützender Hafen aufnahm. Der lange Eingang zu diesem Hafen wurde von schmalen Landzungen gebildet, die mit Erlengesträuch und Weiden besetzt waren. Dann öffnete sich eine kleine Bucht, an deren Ende eine quellenreiche Wiese zur Rast einlud. Wir beschlossen, hier Mittag zu halten und den Rest des Tages sowie die nächste Nacht zu verbringen. Schnell hatten wir unser Zelt aufgeschlagen und alles für unsern Aufenthalt fertig gemacht.

Nach dem Mittagessen und einer kurzen Ruhepause stiegen wir auf die Höhen, durch den herrlichen Hochwald empor. Am Rande des Waldes hatte man schon mit der Roggenernte begonnen. Die Garben standen in Hocken. Daneben erstreckte sich ein Wrukenfeld. Ein scharfer, würziger Geruch ging von den graugrünen Blättern aus. Er vermischte sich mit dem wundersamen süßen Duft, der in betäubender Verschwendung von einem andern Felde ausströmte, auf dem die gelbe Lupine angebaut war. Oft meine ich seitdem diesen eigenartigen Geruch zu spüren, wenn meine Gedanken in Stunden des Heimwehs zu den Seen der verlorenen Heimat wandern.

Nach Osten zu bot sich den staunenden Augen ein wunderbares Panorama dar. Zu unseren Füßen sahen wir den See, dessen Fläche wieder in jenem unwahrscheinlich dunklen Blau leuchtete, wie es zustande kommt, wenn der hellblaue Himmel sich in den Wellen des Sees wie in unzähligen Hohlspiegeln sammelt. Drüben am andern Ufer stand dunkler Wald, von mannigfachen Buchten unterbrochen. Sanfte Höhen trugen auf ihrem Rücken bebaute Felder oder karge Weideflächen. Über den Vorbergen aber lagerte sich in sanfter Breite das Massiv des Turmberges, dessen bewaldete Höhen in unwirklicher Bläue leuchteten. Es ist unmöglich, die bleibenden Eindrücke solcher Stunden zu beschreiben, da man meint, den „Saum des Gewandes“ Gottes durch seine Schöpfungen rauschen zu hören.

Der Nachmittag verging, indem wir unsere Skizzenbücher hervorholten und manche Federzeichnung, manches Aquarell zur bleibenden Erinnerung festhielten. Vor dem Abend erquickte uns ein kühles Bad. Ein schwüles Wetter und drohendes Gewölk kündeten für die Nacht ein Gewitter an. So war es denn auch. Wir lagen schon mehrere Stunden im Schlafe, als uns die gewaltigen Gewitterschläge und der hernieder rauschende Regen weckten. Durch den Zelteingang lauschten wir hinaus in den Aufruhr der Elemente und sahen gleichsam in Blitzlichtaufnahmen die nächtliche Natur wie in Tageshelle. Gespensterhaft leuchteten die seltsamen* frei liegenden Wurzeln der Buchen. Mehrmals kehrte das Gewitter wieder. Wir lagen diesmal auf dem Westufer der Seenkette. So wurde unsere Nachtruhe wiederholt durch das Gewitter unterbrochen.

Froh begrüßten wir den frischen Morgen, an dem die Sonne wieder vom klaren Firmament erstrahlte. Früh verließen wir die etwas feucht gewordene quellige Wiese. Um die nördliche Mole der Hafeneinfahrt nahmen wir nun Kurs auf das Dorf Chmielno, dessen Mühle wir am Ende des Sees bald erreicht hatten. Am Stauwehr vorbei mussten wir unsere „Samoa“ in den vierten Radaunesee hinüber tragen. Weite und dichte Schilfwälder dehnten sich unterhalb der Mühle, und Scharen von Gänsen und Enten bevölkerten hier das fischreiche Wasser. Erinnerungen aus der frühesten Kindheit tauchten auf. In diesen einsamen Schilfwäldern saß ich oft bei jedem Wetter, wenn mein Vater mich als kleinen Jungen auf seinem Rade zum Angeln nach Chmielno mitnahm. Beim Müller waren wir oft zum gastlichen Mittagsmahl. Mancher Hecht, der mit sicherer Hand vom Fischer am Wehr gestochen wurde, ward uns zur schmackhaften Mahlzeit bereitet. Seitdem war mancherlei in der Welt geschehen. Jetzt wohnte hier ein anderer Mühlenpächter. So fuhren wir weiter in das verzweigte Seengebiet an der „Präsidentenhöhe“. Ich habe nie erfahren, nach welchem Präsidenten diese Höhe eigentlich benannt worden ist. Jedenfalls war sie schon in meiner Kindheit das beliebte Ziel vieler Ausflüge. Einmal hatten wir auf einem bekränzten Leiterwagen zur Maienzeit mit den Eltern und den Mitgliedern eines Vereins aus der nahen Kreisstadt hierhin einen Ausflug gemacht. Unter dem Singen vieler schöner Volkslieder waren wir durch den prächtigen, einsamen Buchenwald bis zur „Präsidentenhöhe“ gekommen. Eine kleine gastliche Hütte nahm uns für einige frohe Stunden auf. Der Gesangverein formierte sich und sang seine naturverbundenen Lieder hinaus in diese einzigartige Landschaft zu unsern Füßen, wo man mit einem Blick nicht weniger als drei verschiedene Seen überschaute. Man wurde nicht müde, immer wieder die wundersamen Buchten und Landengen zu bestaunen, die mit ihrer verschiedenen Bewaldung liebliche Bilder schufen. So ähnlich muss es im „Land der tausend Seen“ aussehen.

Wir ankerten mit unserer „Samoa“ also auch in einer lieblichen Bucht, versorgten uns im nahen Dorf mit neuen Lebensmitteln und verbrachten diesen Tag mit mancherlei Besuchen in den verschiedenen malerischen Buchten. Sinnend und staunend schauten wir von den waldumkränzten Höhen hinab auf den Spiegel der Seen. Auch vergaßen wir nicht, unserem Skizzenbuch neue Zeichnungen einzufügen. Am Spätnachmittag lichteten wir dann die Anker, um noch einige Seemeilen unter unsern Kiel zu bringen. Es ging durch den Klodnosee, dann folgten wir dem Lauf der Radaune, die unter überhängenden Zweigen der Birken und Weiden durch ein flaches Wiesengelände eilte, um sich nach kurzer Zeit bei dem Dorf Sawory in den nächsten Radaunesee zu ergießen. Wir durchfuhren mit gutem Rückenwind diesen See in östlicher Richtung. Am linken Ufer zog sich ein Landweg dahin, an dem Ebereschen standen. Nach etwa einer Stunde tauchte vor unsern Augen das einsame Kaschubendorf Remboschewo auf. Die schlichten Häuser waren zumeist mit Stroh oder Schilf gedeckt. An der Landenge zwischen zwei Seen zog sich eine Landstraße von Norden nach Süden. Hier war die Radaune, die inzwischen bereits das Wasser von fünf Seen in sich aufgenommen hatte, schon ein ganz ansehnlicher Fluss. So konnten wir die Durchfahrt unter der Brücke ungehindert passieren und gelangten in den nächsten der Radauneseen, den sogenannten Brodnosee.

Langsam bog hier der Lauf der Radaune durch Schilfwälder hindurch nach südöstlicher Richtung um. Bald kamen wir wieder in freies Fahrwasser. Hinter uns ging die Sonne unter. Der See breitete sich wie ein leuchtender Spiegel vor uns aus, an dessen Ufern sich die Felder und Wälder gar wundersam spiegelten. Eigentümlich gedämpfte Farben zeigten sich nach Sonnenuntergang am Himmel und im Wasser. Auf einem Himmel, der zwischen hellgrün und orange schimmerte, breiteten sich Wolken mit blass-violetter und karminroter Färbung aus. Lautlos tauchten wir die Paddeln in die Flut, um die Stille dieses Abends nicht zu stören. Ein bewaldeter Vorsprung am rechten Ufer lud uns zum Nachtquartier ein. Unter hohen Bäumen hatten wir rasch einen kleinen Lagerplatz gefunden. Die Zeltschnüre banden wir an Bäumen fest. Wieder leuchtete das Lagerfeuer, über den dunklen Wäldern des anderen Ufers, in denen Ramley liegt, ging der Vollmond auf. Vor unsern staunenden Blicken tat sich eine neue Wunderwelt von Wasser und Licht auf. Irgendwo schrie ein Käuzchen, und über den blanken Spiegel des Sees strebte ein verspäteter Taucher seinem Nest im Schilfe zu. Lange noch glänzte die silberne Spur seiner Fahrt im stillen Wasser.des Sees. Eine nahe Quelle sang ihre silberne Melodie durch die einsame Nacht. Ihre Ruhelosigkeit erinnerte uns an jenes Lied: „So in deinem Streben bist mein Herz auch Du. Gott nur kann dir geben wahre Abendruh“. Dem Spender dieses Friedens öffnete sich still unsere Seele.

Der letzte Tag unserer Faltbootfahrt dämmerte herauf. Die rauschenden Wellen, die mit weißem Gischt in die wurzelreichen Ufer schlugen, weckten uns. Sie verrieten uns, dass es ein stürmischer Tag geworden war. Der See war in Aufruhr. Nach kurzer Fahrt lockte uns eine bewaldete Höhe zur Rechten zum Anstieg. Unsere Erwartung wurde nicht enttäuscht. Auf alten Karten trug diese Höhe die Bezeichnung „Schöne Aussicht“. Wir mussten feststellen, diese Höhe trug ihren Namen mit vollem Recht. Ein „schottisches Hochland“ im kleinen bot sich hier unsern staunenden Augen dar. Ich fühlte mich an einen Besuch in den „Trossacks“ von Schottland erinnert, wo Lock Lommond und Ben Venue die Landschaft prägen. Hier in der geliebten Heimat nur alles noch viel lieblicher und zierlicher als dort. Wir schauten zum Ende des Sees hinüber, wo die Radaune abermals dem nächsten See zustrebte.- Auf der Landenge zwischen den beiden Seen grüßten die einsamen Häuser des Dorfes Nieder-Brodnitz. Dahinter glänzte der Spiegel eines weiteren Sees, über dessen hohen Ufern in der Ferne der Turmberg sichtbar wurde. Wahrlich ein Bild, wie es sich der Maler in seinem bildlichen Aufbau nicht besser wünschen kann. Darum ist auch gerade dieser Blick oft von Malern in Bildern festgehalten worden. Wir mussten uns heute damit begnügen, rasch eine Aufnahme zu machen. Dann gings wieder hinab zum See und an Bord der „Samoa“. Bald erreichten wir das Ende des Sees. Auf dem breiten Band der Radaune schreckten wir manche Gänseschar auf und brachten sie aus ihrer eingehaltenen Marsch- oder Geschwaderordnung. Mit wütendem Gezische beschwerte sich der Gänserich über diese ungehörige Störung.


Dann nahm uns hinter dem genannten Dorf Brodnitz der folgende der Radauneseen auf, der Ostritzsee. Im Schutze einer Insel ankerten wir am linken Ufer des Sees und stiegen zum „Königstein“ hinauf, auf dessen Gipfel gewaltige erratische Blöcke und granitene „Findlinge“ aus der Eiszeit wild verstreut liegen. Zur Linken unterhalb des Berges schmiegt sich das Fischerdörfchen Ostritz in den Wald, das diesem See den Namen gibt. Hier verlässt die Radaune den See, um nach Bildung verschiedener weiterer Seen das romantische Radaunetal bei Zuckau zu bilden. Von dort ab treibt ihr gestautes Wasser viele Kraftwerke, bis sie endlich in der Nähe von Praust die Danziger Niederung betritt und bei Krampitz in die Mottlau mündet. Ein Kanal der Radaune, den bereits die Ordensritter angelegt haben, erstreckt sich am Rande der Danziger Höhe entlang bis zur alten Hansestadt Danzig, dort die „Große Mühle“ treibend. In zwei Armen mündet dann dieser Kanal der Radaune am „Brausenden Wasser“ sowie bei „Brabank“ ebenfalls, jedoch breiter, im Stadtgebiet, in die Mottlau.

Auch uns zog es nach Danzig zurück. Allerdings mussten wir uns noch über einen wild bewegten Seitenarm des Ostritzsees nach dem Bahnhof Kresin hinüber kämpfen. Wir dichteten unser Boot mit den Spritzdecken ab. Es war ein harter Kampf mit dem wild gewordenen See, bis wir endlich das rettende Ufer betreten konnten. Unsere „Samoa“ hatte wieder einmal ihre Seetüchtigkeit bewiesen. Wir erreichten noch gerade den letzten Zug, der uns über Karthaus wieder nach Hause brachte. Oft und eindrücklich steigen in der Erinnerung Bilder von jener Faltbootfahrt über die Radauneseen empor. Jene Heimat ist uns im Augenblick zwar verschlossen, aber vergessen werden wir sie nie. Stärker als alle Wehmut ist die Dankbarkeit dafür, dass wir Jahrzehnte lang jene einzigartige Schönheit der Heimat schauen und erleben durften.

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Viele Grüße aus dem Werder
Wolfgang