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Thema: Treibeis auf der Weichsel

  1. #1
    Forumbetreiber Avatar von Wolfgang
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    Standard Treibeis auf der Weichsel

    Treibeis auf der Weichsel
    Dienstag, 26. Januar 2010, vormittags

    Schon vor Langem hatte ich mir vorgenommen, hier einmal zur Weichsel zu gehen. Den hohen Damm hinunter und den weiten Außendeich bis zum Wasser zu laufen. Immer wieder komme ich hierher, zu jeder Jahreszeit. Im beginnenden Frühling wenn ungeheure Wassermassen vom Oberlauf des Stromes heruntergeschossen kommen und die Außendeiche überfluten denen scheinbar nur die dicken Stämme alter knorriger Weiden trotzen. Im Frühsommer wenn Störche staken zwischen mit urwüchsiger Kraft ergrünenden Gräsern, blühenden Wildblumen und niedrigem Buschwerk. Im Herbst wenn die lebensfrohen Farben einem trockenen Gelb und Braun weichen und die selben Störche sich wärmeren Gefilden zuwenden. Im Winter wenn in der Sonne das gleißende Weiß frisch gefallenen Schnees den Eindruck unendlicher Weiten vermittelt die selbst vor dem auf der anderen Seite des Stromes liegenden Damm nicht halt machen. Ich schmunzel, ich sehe, dass ich schon wieder ins Träumen gerate. Wie jedes Mal, wenn ich hier einen Moment raste und innehalte.

    Ich schaue hinunter, dorthin, wo Wasser sein müsste. Im fahlen Winterlicht der tief stehenden Sonne nehme ich die Landschaft wahr, sauge Eindrücke auf. Von Käsemark war ich gekommen, den Damm hinauf gefahren, habe meinen Wagen an dem alten historischen Blockbohlenhaus abgestellt in dem das heutige Deichamt untergebracht ist, war dann zu Fuß die paar Schritte gelaufen die mir freie Sicht verhießen. Eisig ist es hier. Der schneebedeckte Boden und der leichte Eiskristalle aufwirbelnde Wind lassen frösteln, der spielerisch in die Kälte gehauchte Atem zaubert lichte und schnell vergehende Wölkchen.

    Zum Strom mögen es vielleicht fünfhundert Meter sein, aber soll ich wirklich zu Fuß hinuntergehen? Mein Auge hält Ausschau nach einem befahrbaren Weg. Ich weiß, es führen Betonplatten auf den Außendeich, von LKWs befahrbar, denn dort wird der abgelagerte Weichselsand aufgenommen und abgefahren der sommers von Saugbaggern aus der Strommitte gepumpt und an Land geworfen wird. Ich sehe die Abfahrt, grüble, ob ich es wagen soll, mit dem Auto Spuren in die unberührte Schneelandschaft zu ziehen. Soll ich wirklich? Was ist wenn ich stecken bleibe? Die Abenteuerlust siegt - oder ist es lediglich träge Bequemlichkeit die mich verleitet mit dem Auto fahren zu wollen? Ich steige in den Wagen, lasse ihn sanft gebremst den Abhang hinunter rollen, errate den Weg zwischen verschneiten Büschen und dürren Kopfweiden. Ein kleiner Abzweig führt unter die riesige die Weichselbrücke, die den einen Außendeich mit dem gegenüber liegenden Werder verbindet.

    Ich fahre unter die Brücke, verlasse den Wagen, stapfe durch Eis und Schnee zum Strom. Ein grandioser Anblick! Es ist 10 Uhr 30, fast 20 Grad minus. Die niedrige Sonne versteckt sich im Südosten am wolkenbedeckten Himmel. Trotzdem schafft sie es, ein fahles rötliches Licht über Strom und Landschaft zu werfen. Ich stehe an einem Brückenpfeiler und schaue zur Weichsel. Der leicht abfällige Uferbereich ist schneebedeckt. Verbirgt sich darunter Eis? Vorsichtig Fuß vor Fuß setzend taste ich mich Richtung Wasser. Der Strom ist eisbedeckt. Schnell treiben große und kleine Schollen geräuschlos an mir vorbei. Nur gedämpft dringt leiser Verkehrslärm von der Brücke. Gespannt lausche ich, strenge ich mich an, ob mir der Strom nicht vielleicht etwas zu sagen hat. Aber es kommt nichts. Still, leise, geräuschlos, zieht eine unendliche Masse dichten Treibeises an mir vorbei. Kein Singen, kein Knacken, kein Brechen, kein Rauschen, kein Glucksen, nichts, nichts außer Stille. Die Schollen stoßen zusammen, reiben aneinander, aber nichts kann sie aufhalten. Rastlos, hastig, und doch so als verberge sich hinter dieser beflissenen Unrast eine große Ordnung, streben sie dem Meer zu.

    Ich stehe nur da, schaue, gehe in mich. Mir fällt Max Halbe ein, sein bereits vor vielen Jahren gelesenes Reclam-Bändchen „Der Strom“ mit der Familie Doorn. Das Theaterstück handelt vom Eisgang, vom krachenden, donnernden, knallenden Bersten des Eises, davon wie sich der entfesselte Strom binnen Minuten über den gesamten Außendeich ausbreitet, unaufhaltsam steigt, wie er am Damm nagt, wie ein Drama seinen Lauf nimmt...

    Aber nichts von all dem ist nun spüren. Nur eine Ahnung, dass die Weichsel auch voller brutaler impulsiver Gewalt sein kann. Über Jahrhunderte hinweg ging immer wieder eine Gefahr von ihr aus. Können wir uns heute vor ihr sicher fühlen, haben wir sie auf Dauer gezähmt? Wenn sie in früheren Zeiten ausbrach, ihr Bett verließ, schwemmte sie ungeheure Massen mitgetragenen Sandes und Schlamms in das Werder. Im Laufe vieler Jahrhunderte setzte sich so Schicht für Schicht ab, bis weite Teile des Landes das Höhenniveau des Meeresspiegels erreichten. Heute ist der Strom gebändigt, er wird gezwungen seine Fracht vor der Mündung in der Ostsee abzulagern. Trotz Ausbaggerungen steigt die Bettsohle jedoch Jahr für Jahr – ist es nur eine Frage der Zeit bis sie sich von ihren von Menschenhand geschaffenen Fesseln erneut befreien kann?

    Ich stehe nur da, schaue, gehe in mich. Schaue hinauf, nach Norden, wo das hier vorbei treibende Eis in Kürze in der See angekommen sein wird um sich dort vom Südwestwind getrieben fächerartig in alle Richtungen zu verteilen. Blicke nach Osten zum Außendeich auf der anderen Seite, wo Buschwerk und Weiden ihre vereisten Äste, Zweige und Ruten filigran empor recken. Lasse die Augen erneut nach Süden wandern, überfliege die treibenden Eismassen, die auf mich wirken wie aufgequirlter gefrorener Schaum.

    Ich gehe noch ein kleines Stückchen weiter, komme zur Eiskante. Hier ist das Wasser in einer dicken kompakten Eisplatte erstarrt, die leicht abschüssig zum noch fließenden Gewässer abfällt. Auch zwischen den Buhnen ist alles gefroren, aber selbst wenn das Eis im Uferbereich halbmeterdick ist, besteht bei seinem Betreten Lebensgefahr. Denn seit der Eisbildung verminderte sich der Wasserstand um fast einen Meter und wer nun dieses Eis beträte, unternähme eine kaum mehr zu bremsende Rutschpartie die ihn unweigerlich ins Wasser zwischen das Treibeis führte.

    Ich frage mich, wann die Weichsel zugefroren sein wird. Das könnte bereits in wenigen Stunden geschehen, vielleicht in einigen Tagen. Verhakten sich hier an den Buhnen größere Schollen, schöben sie sich übereinander, stauten sie sich an den Brückenpfeilern, flössen sie nicht mehr frei ab in die See, könnte all das dazu führen, dass sich binnen kürzester Zeit die noch in Bewegung befindende Weichseloberfläche zu einem festen Eispanzer wandelt. Früher fuhren hier regelmäßig Eisbrecher oder, als die Tote Weichsel noch höchst lebendig und ungestüm war, sprengten Pioniere die übereinander geschobenen Eisberge mit Dynamit um zu verhindern, dass die Dämme Schaden leiden.

    Schade, dass ich keinen Stuhl, keine Decke dabei habe. Aber es fehlt mir auch an Zeit. Wie gerne bliebe ich noch ein Weilchen, wie gerne beobachtete ich weiter das Treiben des Eises. Die Weichsel ist Mutter, ist Leben, ist Ruhepol. Sie schenkt Kraft, sie vermittelt Zuversicht, sie richtet auf.

    Ich gehe. Aber, liebe Weichsel, ich werde noch viele viele Male kommen.
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  2. #2
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    Standard AW: Treibeis auf der Weichsel

    Wolfgang,
    was fuer eine wunderbare anschauliche Bschreibung. Man soll es immer wieder lesen. Du hast ein Talent!
    Fred Otte

  3. #3
    Forumbetreiber Avatar von Wolfgang
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    Standard AW: Treibeis auf der Weichsel

    Schoenen guten Morgen,
    hallo Fred,

    vor fast genau einem Jahr war ich dort. Kalt war es, eisig kalt. In diesem Jahr gab gab es zwar bisher schon ein bisschen mehr Schnee, aber es war noch nicht so kalt. Trotzdem trieben bereits sehr fruehzeitig Eisschollen auf der Weichsel.

    In ein paar Tagen bin ich wieder in Danzig und im Werder. Mal sehen, wie sich die Weichsel in diesem Jahr am 31. Januar zeigt.
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  4. #4
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    Standard AW: Treibeis auf der Weichsel

    Lieber Wolfgang! Eine ganz tolle Geschichte! Herzlichen Dank dafür! Hans- Henning

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