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Thema: Spaziergang nach Glettkau

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    Forumbetreiber Avatar von Wolfgang
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    Standard Spaziergang nach Glettkau

    Aus „Unser Danzig“ Nr. 17 vom 05.09.1970, Seiten 14-15

    Spaziergang nach Glettkau
    Von Lothar Wegner

    Zu Mittag hatte es ein Essen gegeben, das ich von jeher hoch geschätzt habe: goldbraune Fischkoteletts in goldbrauner Buttersoße mit Sahnekartoffeln und frischem, grünem Salat. Die Vertilgung dieser Genüsse und dazu die Gewissheit, noch 14 weitere Hochsommer-Urlaubstage vor mir zu haben, riefen in mir das Gefühl höchsten Behagens hervor. Mir war so kannibalisch wohl, als wie den bekannten fünftausend Borstentieren. Mit dieser beglückenden Feststellung ging ich in mein Zimmer und öffnete weit das Fenster. Das leise Rauschen der See und der alten Bäume des Südparks waren die richtige Begleitung zum gewohnten Dolce far niente. Ermüdet vom langen Baden, war ich nach einigen Minuten der Meditation hoffnungslos fest eingeschlafen. Ich wurde durch meine Schwester geweckt, die zwölf Jahre jünger war als ich und deshalb die Pflicht hatte, früher aufzuwachen als ihr bejahrter Bruder. „Hast du unseren Spaziergang nach Glettkau vergessen?“, fragte sie. „Mitnichten, edle Dame“, antwortete ich, „in zehn Minuten bin ich fertig!“

    Da unser Vater schlecht zu Fuß war, marschierte ich mit meiner Schwester einträchtig Arm in Arm los. Wie dumm man damals doch war. Nie haben wir daran gedacht, dass wir uns durch die enge Tuchfühlung gegenseitig alle Chancen verdarben. Das war bedauerlich, denn während der Hochsaison wimmelte es in Zoppot von lieblichen Jungfrauen und Jünglingen aller Rassen, Klassen, Typen und Hautfarben. Aus dem herrlich kühlen Südpark traten wir in die Nachmittagssonne wie aus einem Mausoleum in eine Backstube. Nun waren wir auf der Strandpromenade, gingen am Südbad vorbei, das in der Hitze fast Blasen warf, und sahen uns dann rechts von Villengebäuden und links von der so heiß geliebten See und dem schönen Strand begleitet, der sich schon langsam leerte. Doch eine Strecke weiter war sein helles Gelb durch einen kontrastreichen, krabbelnden Fleck unterbrochen: Vor der Kinderheimstätte spielte eine Schar Kinder im weichen Strandsand, den man so schön zu so vielem brauchen kann. Ihre bunte Spielkleidung leuchtete in allen Farben, ihr Wonnegeschrei war schon weithin vernehmbar. Der Strand ist wohl auch der schönste Spielplatz der Welt, denn beim Wälzen, Purzeln und Schmeißen hinterlässt er keine Flecken in der Kleidung. Die kommen erst später durch Schokoladenpudding, Malzbonbons, Kirschen und Himbeeren hinein.

    Im Gegensatz zu dem quirlenden Treiben stand das Bild, das sich ein Stückchen dahinter dem Auge bot. Wir kamen zum Karlikauer Wäldchen. Es müsste eigentlich Karlikauer Miniwäldchen heißen, denn nur wenige Kiefern standen dort, und doch war es ein Idyll ganz eigener Art: Um einen Sandplatz herum lag die Fischerkolonie, in der es so betörend nach Räucherflundern roch. Wir beschlossen, auf dem Rückweg einige plattgewalzte Exemplare mitzunehmen. Ein richtiger Ostseeanlieger kann so oft Fische essen, dass den Männern schließlich die Gräten durchs Kinn wachsen. Zu dieser Stunde bot die Siedlung ein Bild vollendeter Ruhe. Einige Fischer saßen mit der kurzen Stummelpiep im Ledergesicht an den Netzen, die über große Stangengerüste ausgebreitet waren, und flickten die Löcher - eine Arbeit, die nie endet. Breit und schwer lagen die Fischerboote im Sand. Dazwischen stakte eine magere Katze umher und suchte etwas Fressbares.

    Jetzt wurde der Strand ganz einsam. Man konnte die schrillen Schreie der Möwen genau hören. Landwärts hatten die Häuser aufgehört, die Rieselfelder und Schrebergärten begannen, dahinter ahnte man den großen Zoppoter Rennplatz. Glettkau mit seinem kurzen Seesteg war in Sicht. Am Strand, der bis dahin flach war, begannen allmählich die Glettkauer Dünen, ein Eldorado für alle, die die Einsamkeit oder Zweisamkeit liebten. In der Nähe des Stegs stand eine Anzahl Strandkörbe, umgeben von weiten, hohen Sandwällen, an deren Erhaltung scheinbar die ganze Familie täglich arbeitete. Hier war es anders als in Zoppot: Während dort am Nachmittag verhältnismäßig wenig Strandbetrieb war, weil es genug andere Zerstreuungsmöglichkeiten gab, lagen die Glettkauer Kurgäste nachmittags oft auch noch am Strand. Glettkau war das Bad der mittleren Beamten und Angestellten, und die wollten ihre Ruhe haben. Die Fama erzählt, es würde hier streng darauf geachtet, dass die Höhe des Sandwalls mit der sozialen Stellung des Familienoberhauptes übereinstimme. Bessere Kenner der Glettkauer Strandgesetze und ihrer Ausführungsbestimmungen mögen darüber entscheiden, ob das wirklich stimmte.

    Und nun sind wir bei dir, du kleines, weißes Kurhaus! Im Vergleich zu dem Zoppoter Prunkbau wirktest du wie ein Veilchen neben der Rose, doch auch der Veilchenduft hat bekanntlich seine Reize. Mit deinen großen Fenstern, deiner Kolonnade und dem Kaffeegarten davor strömtest du eine Gemütlichkeit aus, die ihresgleichen sucht, und die im internationalen Getriebe Zoppots selten zu finden war. Du hattest keine Sportwoche, keinen Blumenkorso und kein Feuerwerk, und doch wurdest du heftig geliebt, gerade, weil du das alles nicht hattest. Das Kurkonzert besorgte ein Riesen-Radioapparat mit einem Dutzend Röhren, der von allen Gästen bestaunt wurde und das Heiligtum des Wirts war. Die Einstellung durfte nur er zelebrieren. Ein Bombenlautsprecher zierte das Dach der Kolonnade. Er sorgte für die musikalische Berieselung und war für damalige Verhältnisse phantastisch laut und klar. Die Wiedergabe eines preußischen Armeemarschs schmetterte einen vom Stuhl, und die Bienen und Wespen, die in die Schallwellen gerieten, fielen tot aus der Luft. Desto ruhiger war es hinter dem Kurhaus mit seinem kleinen, schattigen Park und dem Mühlenteich, der so verträumt dalag, dass selbst die Fische schliefen. Die wenigen Straßen Glettkaus atmeten überall das gleiche Behagen. Jedes Haus schien dir zuzurufen: Tritt ein, nirgends kannst du dich besser und preiswerter erholen als hier!

    Kaffee und Kuchen schmeckten uns im Kurhaus, wie immer, prima. Die Menschen waren braun und gut gelaunt, viele Gäste kannten sich, Hunde und Kinderwagen lagen und standen überall im Wege, in Intervallen bellten und schrieen sie abwechselnd, was aber niemanden störte.

    Nach dem Kaffee war ein Seestegbummel das übliche. Dieser Steg war klein, aber gepflegt. Auf ihm konnte man allerlei Milieustudien machen. Als Zoppoter kamen wir uns dort wie Großstädter auf dem Dorf vor. Wir beobachteten ein Weilchen die Kurgäste und amüsierten uns im stillen über eine ostpreußische Familie. Sie unterhielt sich in ihrem breiten, unverkennbaren Heimatdialekt, der so gut in das gemütliche Lokalkolorit passte. Wir kamen ins Gespräch und erfuhren, dass sie „von Keenichsbarch kamen und von dem scheenen Jlättkau janz bejeistert wären. Hier kennten sie mit den Hiehnern zu Batt jenen, und das war' die baste Äholung. Morjen sollten die Marjällchens nach Zoppot ins Kasino, um ihr Jlick zu väsuchen“. Da das gar nicht so einfach war und meistens anders auslief, als gewünscht, rieten wir ihnen davon ab.

    Endlich machten wir uns auf den Heimweg. Da er in einer kleinen Stunde zu bewältigen war, brauchten wir uns nicht sonderlich zu beeilen. Zum Abschluss dieses schönen Tages hatte der himmlische Oberfeuerwerker inzwischen ein Schauspiel inszeniert, das selbst das Zoppoter Riesenfeuerwerk in den Schatten stellte: Der ganze westliche Himmel brannte in Purpur, Orange und Gelb, die schwarze Silhouette der Waldberge kauerte darunter. Der Strand leuchtete rosa, und die See schwamm in blau- und rotvioletten Tinten. Es war nicht das erste Mal, dass wir dieser Symphonie in Farben - fast einer Farbenorgie! - begegneten. Jedesmal fesselte sie uns von neuem und war so schön und gewaltig, dass wir bei ihrem Anblick tatsächlich vergaßen, die Räucherflundern abzuholen. Dieses ist wohl ein eindeutiger Beweis, dass die Wunder der Natur durchaus imstande sind, durch ihre Wirkung auch den krassesten Materialismus zu besiegen!

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    Viele Grüße aus dem Werder
    Wolfgang
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    Das ist die höchste aller Gaben: Geborgen sein und eine Heimat haben (Carl Lange)
    Zertifizierter Führer im Museum "Deutsches Konzentrationslager Stutthof" in Sztutowo (deutsch/englisch)
    Certyfikowany przewodnik po muzeum "Muzeum Stutthof w Sztutowie - Niemiecki nazistowski obóz koncentracyjny i zagłady"

  2. #2
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    Standard AW: Spaziergang nach Glettkau

    Heute erst habe ich den Spaziergang nach Glettkau gelesen und auch den Winterspaziergang von Wolfgang. Ich war ganz da in dem kleinen Seebad, dem Eldorado meiner Kindheit, bin mitgelaufen, habe alles gesehen und noch mehr, es war eine schöne Stunde, Ada
    Was ist Geld? Geld ist rund und rollt weg, aber Bildung bleibt. (H. Heine)

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