Aus „Unser Danzig“ Nr. 03 vom 01.02.1957, Seite 18

Das Schlemmerfrühstück von Mariensee
Erinnerungen aus sorgloser Schülerzeit
von Harry Cohn

Wieder einmal, wie so oft und gern, lasse ich meine Gedanken und Träume zurückkreisen, aus weiter Ferne in die alte Danziger Heimat, das Land meiner Kindheit und unbeschwerten Jugend. Heute muss ich im Kalender des Zeitgeschehens weit zurückblättern, um die Erinnerung an jene Jahre wieder liebevoll heraufzubeschwören. Sommer 1926 in unserem unvergesslichen Zoppot: Die Obersekundaner unseres Realgymnasiums hatten um diese Jahreszeit keine der üblichen Schülersorgen: Die großen Ferien "ante portas", Zeugnisse gab es keine, höchstens ein mehr oder weniger harmloses "blaues Briefchen", in dem den Eltern bescheinigt wurde, dass ein oder einige "Mangelhaft " die Gesamtleistungen des Herrn Sohns beeinträchtigten; aber solche Scharten konnten bis zur Zensurenverteilung im Herbst noch ausgewetzt werden, und die Versetzung (oder, wie Verfasser sie auch schon kennenlernte, die Nichtversetzung) zu Ostern war noch in nebelhafter Ferne.

Ein Hauptthema allerdings bewegte in jenen Tagen bestimmt alle Pennälerherzen: Der "Große Schulausflug" ! Der war nun einmal vor Beginn der Sommerferien fällig. Seine Dauer richtete sich nach dem Klassenrang. So erhielt unsere Obersekunda volle zwei Tage zugebilligt. Das war etwas! Fast die ganze Deutschstunde, die unser Klassenlehrer erteilte, wurde über die Frage des Wohin debattiert. Endlich fiel die Wahl auf einen der schönsten und lieblichsten Orte im Danziger Land: Mariensee. So ward's beschlossen. Meine liebe Mutter musste am Nachmittag ein ganzes Kolloquium über die Proviantfrage mitmachen. Aber die üblichen Dinge, die man bei uns Danzigern auf Ausflüge mitnahm, durften nicht fehlen: Dauerwurst, kalte Klopse und die wohlbekannten Soleier - harte Eier, die mit angeklopfter Schale ein paar Tage in Salz gelegen hatten. Bald nahte der Tag des Abmarsches. Ein Weilchen äußerst fröhlicher Kleinbahnfahrt, ein wirkliches Vergnügen, das man heute wahrscheinlich kaum noch kennt, dann aber flott zugeschritten. Endlich tauchte der See vor uns auf; an seinem Ufer stand die schmucke Jugendherberge. Schnell den Staub der Wanderung abgewaschen, ein we nig geruht. Dann nahmen wir bei sinkender Sonne am Gestade des Sees das Abendbrot ein. So manches harmlose Witzchen flog hin und her; der Geist unbedingter Kameradschaft erfüllte uns alle. Damals fragte man nicht nach dem (später für alle so unheilvoll werdenden) Unterschied zwischen Christ und Jude!

Da gab es eine für jene Jahre unerhörte Attraktion: Einer meiner Mitschüler hatte einen selbstgebastelten Radioapparat mit Kopfhörern mitgebracht (der Sender Danzig war zu jener Zeit noch nicht eröffnet). Er ließ jeden ein Ohrvoll genießen, aber außer einem recht monotonen Rauschen und Prasseln, das uns alle mit Entzücken erfüllte und wovon wir nicht genug zu hören bekamen, denn es war nun einmal so etwas wie der Anschluss an eine noch ganz unbekannte Welt, war nun wirklich nichts zu vernehmen.

Dann aber ging es auf Entdeckungsreisen ins Dorf. Eine kleine Gruppe, der auch ich angehörte, musste unbedingt im Kruge einkehren. Bei einigen Bierchen (ob der Herr Ordinarius so ganz damit einverstanden war, blieb dahingestellt, aber das bekannte Sprichwort, in dem Jugend sich auf Tugend reimt, hatte auch damals seine Gültigkeit und geschadet hatte es keinem) wurde eifrig diskutiert, wie man den bisher so herrlich verlaufenen Ausflug noch ein wenig würzen könnte. Da machte einer von uns einen ganz konkreten Vorschlag, der in seiner Einfachheit überzeugend und annehmbar wirkte: Vor Sonnenaufgang wird im See gebadet! Der Klassenkamerad, dem das Amt zugefallen war, die Freunde zu wecken, hatte keine beneidenswerte Rolle übernommen, konnte der arme Kerl doch die ganze, sowieso schon kurze Nacht, keinen rechten Schlaf finden. Aber Punkt vier Uhr stiegen wohl an die zehn Jünglinge in die klare, noch recht kühle Flut des Mariensees. Wie wundervoll ließ es sich dort schwimmen, und welcher Zoppoter Junge konnte sich nicht kunstgerecht im nassen Element bewegen!

Plötzlich schrie einer hell auf: "Mich beißt was!!" Und schon zog er einen ausgewachsenen Krebs aus der Tiefe. Das war das Signal zur Jagd auf die gepanzerten Ritter. Es wurde munter darauflos gekrebst, wenn sich die Scheren auch manchmal in Zehen und Finger verbissen. Alles, was wir fingen, wanderte in mein blütenweißes Badetuch, das ich am Ufer deponiert hatte. Meine gute Mutter hat es dann nie mehr sauber bekommen! Nachdem sich eine erkleckliche Menge des edlen Seegetiers darin bewegte, wurde die Jagd abgeblasen. Inzwischen hatten sich auch die anderen Obersekundaner vom Lager erhoben und wollten auf jeden Fall wissen, was das Tuch in Bewegung versetzte. Aber das blieb nun einmal "top secret", wie man heute sagen würde, bis zum Frühstück. Dann wurde der ganze Inhalt in einen Kessel brodelnden Wassers, der auf lustigem Feuer neben der Jugendherberge stand, entleert. Zur Überraschung und Freude aller wurden jedem zwei prächtig rote Schalentiere überreicht. Bei Butterbrot und Kaffee ein wahres Schlemmerfrühstück in Gottes schöner Natur. Bald marschierten wir in bester Stimmung ab.

Aber das berühmte, oder vielmehr berüchtigte "dicke Ende", und die Wahrheit des Dichterwortes, nach dem "des Lebens ungemischte Freude keinem Irdischen zuteil wird", sollten auch wir kennenlernen. Schon eine Woche später trat mein lieber, mir und allen ehemaligen Zoppoter Realgymnasiasten wohl unvergesslicher Hausmeister, Herr L., in die Klasse. Ich sehe ihn heute noch vor mir, ihn, der sich stets und meist vergeblich bemühte, seinem immer freundlichen Gesicht den Anflug amtlicher Strenge zu geben. Das Schreiben, das er damals mitbrachte, kam vom Seepächter, der von jedem Ausflügler zwei Danziger Gulden als Buße für den erlittenen Schaden verlangte. Das zahlte jeder gern. Damit fand ein harmloses Jugenderlebnis seinen Abschluss.

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Viele Grüße aus dem Werder
Wolfgang