Schönen guten Abend,

im Thema "Danziger Juden: Auswanderer in fünfjähriger Odyssee" wurde über die Umstände der fünf Jahre dauernden "Reise" Danziger Juden nach Palästina berichtet. Eine dieser "Reise"-Teilnehmerinnen antwortete vor fast 50 Jahren auf diesen Bericht. Sie stellte Fragen...


Aus "Unser Danzig" vom 05. Juni 1961, Ausgabe Nr.11, Seite 11

Und doch, es gab auch andere!
Gedanken zum Schicksal der Danziger Juden


Zu den verschiedenen in "Unser Danzig" veröffentlichten Artikeln über das Schicksal unserer Danziger jüdischen Mitbürger ging von Fräulein Margot Beer die nachstehende Zuschrift ein. Sie war zur Zeit ihrer Ausreise aus Danzig im August 1940 ("Auswanderer in fünf jähriger Odyssee", die langjährige Irrfahrt der Danziger Juden über die Insel Mauritius bis zum Eintreffen in Palästina im August 1945, siehe "Unser Danzig" Nr. 21, 22 und 23, 1960) Primanerin einer höheren Mädchchschule in Danzig und wohnt jetzt in Haifa in Israel.

Kennen Sie das Buch von dem "Zuschauer auf verlorenem Posten"? Sicher nicht, denn dieses Buch ist nie geschrieben worden. Es hätte in meiner Heimatstadt spielen sollen, in Danzig und auch in Langfuhr -dort begann das erste Kapitel-, in Oliva und Brösen, in Heubude und Zoppot. Dem Strießbach wären Sie darin begegnet und der Radaune, dem Hagelsberg und der Königshöhe. Eine Rodelfahrt durch den Olivaer Wald und ein Bummel auf der Johanniswiese hätten auch dazu gehört. Das letzte Kapitel endete auf dem Danziger Güterbahnhof am 26. August 1940.

Der "Zuschauer auf verlorenem Posten" war zum Hauptdarsteller geworden, und alles das, woran er einmal geglaubt und was er für wertvollstes Kulturgut gehalten hatte, bestand nicht mehr. - Eben darum war es sinnlos geworden, über die Zeitgeschichte zu berichten.

Waren es nur bestimmte Nazis, besonders deren sogenannte Führer, die alleine die Erniedrigung und Vertreibung der Juden Danzigs in Werk setzten?

Waren nur ein paar Befehle von der mit Mehrheit gewählten Danziger Regierung allein dafür verantwortlich, dass Ärzte und Rechtsanwälte ihre Praxis und ihre Kanzlei schlossen und Kaufleute ihre Geschäfte, dass jüdische Kinder ihre Schulen verlassen mussten und ihre Eltern sie in die Welt schickten, sofern sie das Glück hatten, die dazu notwendigen Stempel und Unterschriften in den Pässen zu erhalten?

Es waren auch so manche andere, die die Katastrophe meiner Heimatstadt mit herbeiführten. Der Zuschauer auf verlorenem Posten wusste genau, wer es war, er sah sie täglich. Es war der Lehrer in Biologie, der mit großem Behagen der Schulklasse die verschiedenen Rassenmerkmale auseinandersetzte, wobei es ihm hauptsächlich um die Hervorhebung der Minderwertigkeit der Juden ankam.

Es war die Frau des Postbeamten, die als jahrelange Kundin das jüdische Geschäft nun nicht mehr betrat. Sie wusste doch, was sie sich und ihrem Verein schuldig war.

Es war die Mitschülerin, die ihrer besten Freundin sagte, dass man sich nun nicht mehr sehen könne, denn: "Mein Vater ist doch Staatsbeamter, du verstehst!" Natürlich verstand man, viel zu viel sogar.

Es waren die Kinder des Nachbarhauses oder der Nebenstraßen, die mit schmutzigen Beschimpfungen hinter einem herliefen oder, wenn man alleine ging und sie in genügender Überzahl waren, einen Überfall wagten. Es war der Chef, der seinem langjährigen Angestellten nahelegte, sich lieber einen anderen Arbeitsplatz zu suchen, denn er könne doch nicht sein Unternehmen gefährden. Er würde es doch verstehen, nicht wahr?

Es waren die Nachbarn, die man nicht einmal kannte, vielleicht die aus der ersten Etage oder die aus dem Hause gegenüber, die bei der Gestapo denunzierten, dass die dreckigen Juden immer noch ihr Radio hätten. Die Gestapo kam, um zu beschlagnahmen oder auch zu verhaften.

Es waren nicht die Gesetze und Bestimmungen, die kamen später. Es waren vielmehr die Menschen. Kein Gesetz befahl, die Fensterscheiben. jüdischer Geschäfte einzuschlagen und die Waren herauszustehlen. Der Zuschauer stand in der Nähe der Danziger Markthalle und mischte sich unter das mehr -oder minder- beteiligte Volk. Er wollte keine Berichte aus zweiter Hand. Er musste es genau wissen. Auch das gehörte ins Archiv der damals noch Freien Stadt Danzig (dass es für ihn gefährlich hätte sein können, fiel ihm erst später ein).

Er sah das Schild an Theater und Kinos "Juden unerwünscht", an dem Tausende vorbeigingen, und da er ihre Antworten im voraus wusste, brauchte er sie nicht nach ihrer Einstellung zu fragen. Auch das hätte gefährlich werden können.

Aus dem Untersuchungsgefängnis schickte man die Särge eines jüdischen Ehepaares. "Selbstmord", hieß die offizielle Erklärung. Die Notizen des Zuschauers wuchsen ins Unfassbare.

Das, was er für eine uneinnehmbare Burg an Treue und Redlichkeit, an Geradheit und Anständigkeit und Mut gehalten hatte, zerbröckelte an der endlosen Reihe der selbst erlebten Tatsachen. Alles das, wozu man ihn erzogen hatte, galt nicht mehr. Er stand auf dem verlorenen Posten einer ins Brutale abgleitenden Zivilisation, die für ihn die ganze Welt und noch ein wenig mehr gewesen war.

Und doch! Glaubt es nicht, wenn man euch erzählt, dass alle diejenigen, die eine Hakenkreuzfahne aus dem Fenster hängen ließen, Mörder oder Diebe waren! Glaubt es nicht, wenn man euch erzählt, dass alle diejenigen, die täglich und stündlich dem moralischen Niedergang ihrer Generation gleichgültig zusahen, auf ihren eigenen persönlichen Vorteil bedacht, korrupte Halunken waren! Glaubt es nicht, dass jeder, der eine Uniform trug, ein gemeiner Sadist war!

Es gab auch andere! Die Notizen des Zuschauers berichten von jener Lehrerin, die sich unter Gefahr für ihre eigene Stellung für ihre jüdischen Schülerinnen inmitten einer Meeres der Verhetzung und des Hasses einsetzte und ihnen den nötigen Halt verlieh, um nicht ganz an der Menschheit zu verzweifeln. Die Notizen des Zuschauers berichten von jener kleinen Gruppe junger Arbeiter, die eines Abends zum Überfall von etwa einem Dutzend Hitlerjugend auf einen einzelnen jüdischen Jungen gerade zurecht kamen. Sie stellten die "öffentliche Ordnung" wieder her, suchten seine halb zerbrochene Brille und brachten ihn nach Hause.

Die Notizen des Zuschauers wissen vom Morgen des Kriegsausbruches zu berichten, dass eine mit ihren 60 Jahren herzkranke Frau eines Fabrikarbeiters, die selber ihr ganzes Leben schwer sich geplagt hatte -in Haushalt und Fabrik gleichzeitig-, die vier Etagen eines Hauses schwer bepackt hochkletterte und ganz außer Atem oben anlangte. Der verblüfften jüdischen Hausfrau, die sie nur durch den Verkauf einiger Möbelstücke kannte, eröffnete sie schlicht: "Ich hab mir gedacht, Sie werden doch heute nicht auf die Straße gehen können", und wies auf die prallgefüllten Einkaufstaschen. Die Geschütze der "Schleswig-Holstein" donnerten in ihre Worte hinein, und in zwei Kilometer Entfernung fielen die Bomben auf die Westerplatte. Das letzte Kapitel hatte gerade begonnen: Nur wusste das damals niemand.

Wirklich niemand?

Der letzte Tag in der Heimatstadt kam sehr plötzlich. Vier Stunden Zeit, um das, was man in ein anderes Leben und in einen anderen Erdteil hinüberretten wollte, in einen Koffer und einen Rucksack zu packen. Die Hausmeisterin vom gegenüberliegenden Flur kam herüber, um zu fragen, ob sie etwas helfen könne; vielleicht noch etwas einkaufen gehen oder Verwandten und Bekannten Bescheid sagen. Sie war eine sehr einfache Frau. Sie hatte keine Höhere Töchterschule besucht und keine Fortbildungskurse. Beim Abschied meinte sie mit einer Art verbissenen Trostes: "Sie wissen wenigstens, wohin Sie gehen. Aber wohin werden wir einmal laufen?" Das war, wie erwähnt, im August 1940.

Das alles ist nun Historie. Jeder hat sie anders erlebt. Jeder weiß es anders. Nur der Schlusspunkt unter unseren so verschiedenen Geschichten ist der gleiche. Die Freie Stadt Danzig meiner Kindheit existiert nicht mehr. So jedoch war der Titel des ungeschriebenen Buches vom "Zuschauer auf verlorenem Posten" nicht gemeint gewesen.

Anschließend schrieb Margot Beer noch einige beachtenswerte Gedanken zu dem Eichmann-Prozess in Jerusalem: "Bei dem Eichmann-Prozess geht es meiner Ansicht nach gar nicht um den ehemaligen SS-Obersturmbannführer oder um Deutschland, sondern um die Tatsache, dass wir, wir alle, die Menschheit des 20. Jahrhunderts, immer noch Barbaren der Steinzeit sind. dass vielmehr wir, wir alle, eigentlich nur darum auf der Welt sind, um einander zu helfen. Das hat nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz der Menschen begriffen. Der große Jammer könnte einen ergreifen, wenn - wenn es nicht immer wieder und wieder einzelne geben würde, die durch ihr bloßes Dasein beweisen, dass die alte jüdische Sage von den 36 Gerechten auf der Welt stimmt. Sehr vielen Leuten ist es, wie ich glaube, nicht klar, dass der Eichmann-Prozess nicht um der Vergangenheit willen wichtig ist, sondern der Zukunft wegen. Es tut einem das Herz weh, wenn Bekannte erzählen, wie verwundert und fassungslos oft deutsche Gäste in Israel, besonders die Jugend, sind, weil man sie als eben das aufnimmt, was sie sind, nämlich Gäste. Es ist ein Jammer, mit wieviel Komplexen man diese jungen Leute belastet, anstatt die Vergangenheit einmal gründlich auszulüften. Mit Tatsachen kann man nämlich fertig werden, mit Geistern nicht.“

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Viele Grüße aus dem Werder
Wolfgang