Aus dem Buch: "Der Wanderer durch Ost- und Westpreußen", Wernich, Elbing 1907

Vom Danziger Werder

[...] Wir entsteigen der Kleinbahn in Sperlingsdorf, einem der ältesten Dörfer des Werders, dem Vruthy der pommerellischen Slawen, die sich dereinst hier am Sumpf und Rohrwald niederließen. Damals lag der Ort auf einer Halbinsel, die nordwärts in das seichte Haff vorstieß, dessen Wellen beinahe bis an den Fuß des Bischofsberges spülten, wenn der Stauwind seine Flut höher schwellte. Nur wenige Schritte haben wir von der Haltestelle zurückzulegen, und wir stehen auf der Mottlaubrücke, von der aus wir eines der schönsten, wo nicht das lieblichste aller Werderbilder mit dem Blick umspannen.

Leise zieht das Flüsschen dahin. Auf seinem Spiegel glitzern die Sonnenstrahlen. Verschlafen heben und senken sich die riesigen Blätter der Mummeln und Seerosen, und um die Algen in der klaren Tiefe huschen schlanke Fische. Zu unserer Rechten beschatten uralte Rüstern einen schmucken Werderhof. Eine Schar schneeweißer Gänse steckt unter dem Hoftor die Köpfe zusammen. Jetzt gibt die größte von ihnen mit laut krähendem Ton die Losung aus, und im Gänsemarsch kommen sie dem Flüsschen zugewandert. Auf dem Damm zur Linken zieht sich ein Birkengang bis zum schattigen Garten des nächsten Hofes dahin, der auf dieser Seite den Hintergrund ausfüllt. Zur Rechten folgt der Blick einer Dornhecke bis zu dem schlichten Kirchlein, das unter uralten Eichen träumt, in Schlaf gewiegt von dem gleichmäßigen Geplätscher der Flusswellen. Wer auf dieser Brücke stand und sich von Frau Sonne das stille Bild zeigen ließ, das blanke Flüsschen, die weißen Birken, die hohen Ulmen und das schlichte Gotteshaus, das nun einmal nichts weiter sein will als ein ehrbares Kirchlein in der unscheinbaren Schwemmebene, der wird von dem Werder freundlicher denken als bisher, mag er dies Bild vor sich sehen in der Laubfülle des Mittsommers oder am klingend kalten Wintertag, wenn im Schnee des Uferhangs, auf der vereisten Fläche des Flusses tausend Eiskristalle blitzen und leuchten. Es gibt nur wenige Plätze in unserer Heimat, wo wir im ebenen Gelände so stolzen Baumwuchs beobachten können als hier zu Lande.

Tritt mit mir ein in das schlichte Gotteshaus. Voll und klar fällt das Sonnenlicht durch die einfachen Glasfenster. Hell und licht ist der ganze Raum, hell gestrichen die Wände, hell gestrichen die schlichten Holzbänke. Eine Gedenktafel an der Wand kündet in ungeschickten Versen von einem wackern Bauersmann, "der mit kaltem Blute Böses nicht getan". Auf einer der Bänke nehmen wir Platz und schauen zu der
winzigen, vor Alter gekrümmten Orgel empor. Es ist so hell, dass wir sehen können, wie sich eine fürwitzige Fliege auf dem Gesangbuche die Füße putzt. Vor dem Fenster leuchtet das Laub der Bäume, die ihre Äste über das Dach breiten. Gleichmäßig tönen die Worte des Predigers durch den Raum. Leise atmen die Gläubigen, und draußen am alten Holzzaun reibt sich der Fuchs, der den Bauern zur Kirche fuhr. Erklimmen wir aber den winzigen Kirchturm, so sind wir mitten drin im Geäst der Eichen, in dem der Fink schlägt.

Folgen wir dem Flussufer, an dem uns überall Baumgrün Schatten spendet, so finden wir noch manch anderes freundliches Bild. Hier reckt eine urwüchsige Eiche ihr knorriges Astwerk über die Dorfschmiede. Kümmerlich und dürftig mutet uns das Häuschen an, als hauchte ihm nur das Bewusstsein, an dem grünen Recken über sich einen Schutzherrn zu haben, einigen Lebensmut ein. Ein Amboss rastet am Stamm der Eiche. Hier glitzert das Flüsschen, dort verschließt hoch aufschießendes Stangenholz am Gartenrain die Aussicht.

Wie still und verträumt jenes Haus am Kreuzweg liegt! Unendlich feucht und ungesund muss der tiefe Grund sein. Nur den Nesseln sagt er zu. Meterhoch schießen sie auf und umhegen den Fuß der alten Bäume, deren dichtes Laub jeden Sonnenstrahl von dem Häuschen fernhält. Bloß zur Abendzeit, gerade wenn die Sonne versinken will, finden ihre Strahlen für Augenblicke einen Zugang zu den altertümlichen, gebogenen Scheiben, dass sie wie Gold auflohen.

In dem Haselgebüsch locken die Blaukehlchen. Vor hundert und aber hundert Jahren war hier ihre Heimat, als das Weidicht noch auf der Kämpe wucherte und der Rohrweih über das stille Altwasser strich, dort, wo jetzt die schwarzweißen Kühe weiden. Doch es ist nichts mit den Menschen! Wie ungastlich ward die Stätte. Nun hilft es nichts, nun müssen sie weiter wandern bis zur Tundra, hoch oben in Lappland, bis sie an Minne denken können und Nestbau.

Dort wo die Haseln sich lichten, schauen wir hinaus auf den Weidegrund. Weiße Wolken, blauer Himmel und grünes Gras, in der Ferne ein paar Scheunendächer des Dorfes Schönau. Und darüber rechte Mittsommerruhe und ländlicher Friede. Am Zoppoter Seesteg ist mehr Leben, aber schön ists auch hier. Meint ihr's nicht auch, ihr Weggesellen? Und noch viel gibts zu sehen. Im weiten Bruch, wo sich die Altwasser der Radaune und Gans zu einandergesellen, im Schlosspark von Herrengrebin und dort, wo Brombeergerank und Eichengebüsch den Waldweg begleiten, auf der Feldmark von Trutenau. Den Waldweg? fragt ihr. Ja, den Waldweg; denn ein solcher ist es, wenn auch der Wald schon vor Menschenaltern geschlagen wurde.

Doch ich will das Werder nicht ausführlich schildern. Nur anpreisen möchte ich es als ein Gebiet, das der Besucher wohl wert ist. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere der Stunden, da er in der Jugendzeit am rotglühenden Winterabend auf dem Mottlaueise seine Bogen zog. Vielleicht reizt ihn diese Erinnerung, sich jenes Gelände noch einmal anzusehen, wenn der Herbst ins Land zieht und die Blätter der Rüstern gilben. Er wird seine Wanderung nicht bereuen.