Aus "Unser Danzig", 1953, Heft Nr.10, Seite 5:

In alle Winde zerstreut
Das Schicksal der Vogelsänger und ihrer Heimat

Als im Sommer und Herbst 1944 auf unseren Dünen am Haff Schützengräben von der Bevölkerung ausgehoben werden mussten, haben wir den Kopf geschüttelt: Wie sollte auf diesem stillen Fleckchen Erde, der großen Kampfhandlungen doch keinen Raum bot, jemals der Krieg toben!

Wohl hatten wir ein „Russeneng", den Teil unseres Dorfes, der westwärts, nicht ostwärts lag. Er erinnerte an die Kämpfe im 18. Jahrhundert, als die russischen Truppen von der Niederung her eingeströmt waren. Aber was sollte der Feind jetzt bei uns suchen? Bei uns war doch nichts zu holen! Sollte dieser schmale Landstrich zwischen Haff und See wirklich strategischen Wert haben? Aber wir wurden eines anderen belehrt.

Der große Flüchtlingsstrom setzte ein, von Ostpreußen her übers Haffeis, und als der allmählich verebbte, wurden die stillen Dörfer Kampfzone. Schützengräben rissen tiefe Wunden in die Dünenhänge, Artilleriegeschosse und Fliegerbomben zerstörten auf grausige Art den Jahrhunderte langen Frieden unserer Einsamkeit.

Die Bevölkerung, durch Generationen hier fest verwurzelt, klammerte und krallte sich an die Scholle. Aber die Bombenteppiche russischer Flieger legten Jagen um Jagen des Dünenwaldes nieder. Näher und näher rückte unaufhaltsam das Verhängnis, und schließlich wurde Ende April 1945 die Bevölkerung mit Gewalt von den eigenen Soldaten auf Lastautos verladen und nach Nickelswalde gebracht. Abends ertönten am Ufer des Heimatstromes noch einmal unsere geliebten Heimatlieder:

Land, das meine Heimat,
zwischen Haff und See,
dir gehört mein Leben,
friedvoll und im Weh!

Dann wurden alle auf Prähme verladen, die sie nach Hela brachten. Von dort aus ging es weiter. Genau 30 Bewohner Vogelsangs landeten, vom Schicksal verschlagen, auf der dänischen Insel Bornholm. Ihre Gedanken und ihre Sehnsucht hingen, wie bei all den anderen auch, immer und immer an der Heimat. Als nun die Russen diese Insel besetzt hatten, schickten sie kurz nach dem Waffenstillstand noch im gleichen Jahre alle Deutschen, die dort weilten, in ihre Heimat zurück.

So wurden die 30 Vogelsänger mittels Schiffen nach Kolberg gebracht und durften und mussten von dort aus nach Hause pilgern. Das brauchte man ihnen nicht zwei Mal zu sagen. Mit großer Freude und Eile sind sie geschlossen gewandert, beglückt, nach Hause zu kommen. Sie erblickten voll Grauen die Trümmerstätte der Stadt Danzig. Doch als sie sich dem Durchstich, der Stromweichsel näherten, fanden sie die Dörfer wenig zerstört. Seltsamerweise hatten die feindlichen Truppen diesen Raum vor größeren Bombenangriffen verschont, obwohl sich, den Fliegern sichtbar, tausende von Flüchtlingen auf engem Raum am östlichen Ufer des Stromes zusammen gedrängt hatten.

Nickelswalde, Pasewark, Steegen, Stutthof – je näher sie dem Heimatdörfchen kamen, um so mehr beflügelten sie ihren Fuß. Als sie bei Bodenwinkel das Haff wieder erblickten, kannte ihre Freude keine Grenzen. Bodenwinkel selber war wenig zerstört und so schöpften sie für sich selber große Hoffnung. Aber sie wurden grausam enttäuscht.

Sie finden ihr Dörfchen völlig zerstört vor. Denn hier, ausgerechnet hier, hatten auf der Nehrung – und damit wohl überhaupt im Osten – die letzten Kämpfe getobt. Einer der letzten Heeresberichte, wenn nicht gar der letzte überhaupt, enthielt die Worte: „Kämpfe in Vogelsang". Die nun freudigen Herzens heimgekehrt waren, fanden Schutt und Trümmer vor. Von den 63 Häusern des Dorfes waren nur drei einigermaßen bewohnbar. Das Gasthaus „Neue Welt" war schon am 3. Februar abgebrannt, das Posthaus bald darauf durch Tiefflieger in Brand gesetzt. Jetzt war alles zerstört.

Düster und schrecklich sah auch der Wald aus. Schon unsere Truppen hatten zum Bau der Kleinbahn von Stutthof nach Pillau auf der Kieschaussee, der alten Poststraße, auf schlimme Art den Wald abgeholzt. Sie sägten in halber Mannshöhe die Bäume ab, sodass die Baumstümpfe trostlos in die Gegend ragten, ein Bild des Jammers besonders für die Nehrunger, die ihre Wälder sehr liebten. Weiterhin hatten die Granaten den Wald verstümmelt, und die Bombenteppiche russischer Flieger hatten ihr Letztes dazu getan.

Aber den Vogelsängern war es doch die Heimat, und sie richteten sich in den wenigen, leidlich bewohnbaren Häusern ein. Sie konnten sich Kutter und Netze besorgen und durften ungestört ihrem Berufe nachgehen. Da in der Niederung, deren Gehöfte leer standen, noch Lebensmittel aufzufinden waren, gingen die Tage leidlich friedlich und still dahin.

Das wurde aber anders, als den Polen Teile des Danziger und ostpreußischen Raumes, damit auch Vogelsang überantwortet wurden. Jetzt war es mit dem friedlichen Leben vorbei. Die Fänge mussten abgeliefert werden, und zur Kontrolle fuhr immer ein polnischer Aufseher mit. Der ehemalige Bürgermeister (O.P.) wurde in Danzig gefangen gesetzt. Er ist erst vor fast zwei Jahren aus der Haft entlassen worden und im Januar des Jahres an den Folgen des Gefängnisaufenthaltes verstorben. Ein jüngerer Fischer (P.) wurde aus nichtigem Anlass erschossen, ein älterer (A.M.) nach Elbing verschleppt. Man hat nichts mehr von ihm erfahren. Manche Frauen wurden aus nichtigem Anlass mit Stockschlägen traktiert und tagelang in feuchte Keller eingesperrt. Es war ein Leben, das Allen die Heimat verleidete.

Eines Tages erschienen plötzlich Lastkraftwagen und wie sie gingen und standen wurden die Bewohner darauf geladen und zu den Ausgangslagern bei Danzig gebracht. Nach langwierigen Formalitäten wurden sie dann völlig mittellos in die Lager der russisch besetzten Zone gebracht und von dort aus auf verschiedene Orte verteilt. Ein Teil von ihnen ist nun schon verstorben, die erlittenen Strapazen und die, gerade bei diesen Menschen starke Heimatsehnsucht haben ihren Tod beschleunigt.

Der Hauptstrom der „Vogelsänger", der über Dänemarks Lager dann in die Westzone einfloss, ist vom Norden bis in den Süden verteilt. Der Mut, mit dem gerade diese in Einsamkeit und Heimatboden sehr stark verwurzelten Menschen sich wieder voll ins Leben gestellt haben, ist dem aller anderen Vertriebenen völlig ebenbürtig.

Hans Werner (früher Vogelsang)

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Wolfgang