Ein Fortsetzungsbericht aus "Unser Danzig" von 1960: Nr.2 vom 20.01.1960, S.7-8 / Nr.3 vom 05.02.1960, S.12 / Nr.4 vom 20.02.1960, S.9-10
Die Anfänge des Zoppoter Realgymnasiums
Aus der Sicht eines ehemaligen Schülers
(von Hans Heidingfeld)
Um die Jahrhundertwende gab es in Zoppot noch kein Gymnasium, wohl aber die Bergmannsche höhere Knabenschule. Wie lange sie damals schon bestand, ist mir nicht bekannt, doch ließ der Zustand ihrer tintenbeklecksten und mit reichlichen Einkerbungen versehenen Bänke vermuten, dass sie schon eine stattliche Reihe von Jahren hinter sich, hatte. Sie befand sich in der Danziger Straße, im vierten Haus neben dem Seestraßeneckgrundstück zwischen der Tischlerei von May und der Töpferei von Didzun. Das Haus führte später die stolze Aufschrift "Spanischer Hof", die niemand erklären konnte. Möglicherweise war das eine Parallele zu dem "Schwedenhof", der zuletzt das evangelische Pfarramt beherbergte, und deutet auf die Quartierhöfe der ausländischen Delegationen hin, die vielleicht um 1660 zu dem Frieden von Oliva dort untergebracht waren. Solcher Diplomatenherrlichkeit war aber unserem Schulhaus nichts mehr anzumerken. Es stand senkrecht zur Straße und war eigentlich ein sehr bescheidenes unterkellertes Wohnhaus für fünf Familien. Im Dachgeschoß wohnte unser Schuldiener Kellmer, im hinteren Erdgeschoß ein Schuhmacher und die restlichen drei Wohnungen waren durch Wandausbrüche zu fünf Unterrichtsräumen und Nebengelass für sechs Klassen eingerichtet. Diese Ziffern besagen, dass mindestens eine Klasse jeweils Beschäftigungsunterricht hatte und dauernd gewandert werden musste. Die Bänke ließen nur schmale Seitengänge frei. Es waren fünf bis sechs Plätze in einer Reihe, und man kletterte dem Nachbarn über den Buckel, um hinauszukommen, eine etwas schwierige Angelegenheit. Die Ausstattung und die Lehrmittel waren sehr einfach, schlichter ging es nicht mehr. Kein Wunder! Die Anstalt hatte - nehmen wir mal an - 150 Schüler, jeder zahlte zehn Mark monatlich, was 1.500 Mark ergab, von denen außer dem Leiter noch vier bis fünf Lehrkräfte, der Schuldiener, die Miete usw. bezahlt werden mussten. Und Staatszuschüsse gab es nicht.
Wir hatten für die Schulanfänger eine Vorschule mit den Klassen Nona (die neunte), Octava (die achte), Septima (die siebente), eine Anordnung, die im Jahre 1919 aufgegeben wurde und daher nur noch wenigen bekannt ist. Von da ab mussten alle Schulanfänger, auch die späteren Besucher einer höheren Schule, zuerst in die Volksschule. In der Vorschule herrschte Fräulein Hochbaum, die sich allgemeiner Beliebtheit erfreute. Sie trat dann später zur Volksschule über. Dann hatten wir eine Unterstufe, wie sie der eines Realgymnasiums entspricht, eine Sexta (die sechste), Quinta (die fünfte), Quarta (die vierte). Wer weiter wollte, musste an eine andere Schule in Danzig. Als Fremdsprache hatten wir Französisch. Die Elementarfächer wurden von einem Lehrer Gr. gegeben, dessen Dasein ein unrühmliches Ende fand, da er ein Freund feuchter Fröhlichkeit war, was sich besonders einmal bei und nach einem Schulausflug mit Kremsern nach Glettkau auswirkte. Das nahm der Herr Bergmann übel, auch genügte es ihm offenbar nicht, dass die grammatikalischen Kenntnisse sich auf die Zergliederung des nackten Satzes in Subjekt, Prädikat und Objekt beschränkten. Wir Jungen waren ebenfalls anderer Meinung. Uns hatte dieser Herr mit seiner Geige sehr viel Freude bereitet. Wir haben zum Klange seiner Fiedel alle die schönen Lieder aus dem Dammschen Liederbuch gelernt, nach dem schon 30 Jahre früher meine Mutter unterrichtet worden war. "Die Wacht am Rhein", "Der Gott, der Eisen wachsen ließ", "Ich bin ein Preuße" und nicht zuletzt "Heil Dir im Siegerkranz", bei dem wir allerdings niemals verstanden haben, was "hohe Wonnegans" damit zu tun hatte. Aber wir haben natürlich auch alle die schönen Volkslieder vom Lindenbaum, vom kühlen Grunde, von Müllers Wandern und viele, viele andere gelernt, die unser Leben auch heute noch begleiten. Und dann all die vielen Kirchenlieder! Die sangen wir nicht nur im Kindergottesdienst in der Kirche, sondern auch in den Wochenanfangs- und Wochenendandachten in der Schule.
Diese Andachten sind allen, die in ihrem Verlauf angesprochen wurden, in bleibender Erinnerung. Da wurden nämlich am Wochenende die Tadelhefte verlesen. Jeder Schüler hatte ein solches, in das die ins Klassenbuch eingetragenen Vermerke geschrieben wurden. Am Montag mussten sie, von den Eltern unterschrieben, wieder vorgelegt werden. Das gibt es heute wohl nicht mehr. Natürlich gab es auch andere Strafen. Kopfnüsse, Haarziepen, Backpfeifen, das war alles erlaubt und den Eltern alles andere als unangenehm. Es hat auch sicherlich keinem geschadet. Das "Nachsitzen" gibt es ja aber wohl noch heute. Die derbste Strafe war die mit dem Rohrstock. Da musste der Delinquent nach vorn zum Lehrer, sich selber über die vorderste Bank legen, der Hosenboden wurde stramm gezogen und die zudiktierte Zahl von Hieben wurde aufgezählt. Ich höre heute noch, wie an einem sehr heißen Sommertag ein notorischer Sünder, zu dieser Prozedur schon über die Bank gelegt, voll Angst ausrief: "Herr Oberlehrer, Herr Oberlehrer, ich hab heut keine Unterhosen an!" Es half das aber nichts, kein Streich wurde ihm geschenkt. Eine Strafe, die es heute wohl auch nicht mehr gibt, war die, etwa 20 Mal aufzuschreiben: "Ich soll nicht..." z. B., den Mädchen die Haarschleifen aus den Zöpfen ziehen. Ein sehr hartnäckiger Sünder, über den mal wieder eine Beschwerde eingelaufen war, sollte nun eine ganze Woche lang täglich eine solche Strafarbeit aufweisen. Das geschah immer in der Pause auf dem Schulhof. Der Herr Oberlehrer zeichnete sie am ersten Tage stumm ab und gab sie zurück. Unser Sünder, zu faul, die Arbeit zu wiederholen, radierte das Sichtzeichen ab und wies sie am nächsten Tag wieder vor. Der Herr Oberlehrer sah sie sehr aufmerksam an, sagte nichts, zeichnete sie an anderer Stelle ab und gab sie stumm zurück. So geschah es auch am dritten, am vierten und am fünften Tage. Und am sechsten, da fragte er den Schüler, wo er denn nun sein Sichtzeichen hinmachen solle. Der aber ließ sich nicht verblüffen, sondern zeigte auf den Rand. Da sei doch schon alles voll, meinte der Oberlehrer, und schon hatte der Freche seine Maulschelle weg und "flog" von der Schule. So was geschah nicht allzuoft, da es ja dem Herrn Oberlehrer auf jedes Schulgeld ankam.
Die Leistungen unserer Schule waren nicht schlecht, und ich habe nie gehört, dass Schüler, die von uns an andere Schulen gingen, nicht mitgekommen wären. Neben den wissenschaftlichen Fächern gab es auch Turnen und Turnspiele. Geturnt wurde im Zoppoter Hof, einer Gaststätte in der Pommerschen Straße, an den Geräten des Zoppoter Turnvereins. Leider war es dort stets sehr staubig und der Saal schlecht zu lüften. Die Sprungmatratzen besonders waren grausam schmutzig. Dafür ging es dann an schönen Tagen hinaus auf den Turnhof der Volksschule in der Danziger Straße und zu den Turnspielen auf den Manzenplatz, zu dem die ehemaligen Dünen zwischen der hinteren Nordstraße und der Strandpromenade umgebaut worden waren. Hier fanden auch viele Jahre lang die Wettspiele der Zoppoter Schulen am Sedantag (2. September) statt, und wir wurden dort zu begeisterten Sportjüngern der Vorführungen und Kämpfe aus Anlass der Zoppoter Sportwoche.
Unsere Lehrer waren alles sehr junge Herren, die teils noch vor dem Staatsexamen standen, zum Weiterstudium Geld verdienen mussten, teils auf eine Anstellung warteten, Philologen und Theologen. Ich entsinne mich noch der Namen Dr. Müller, der später eine Pfarre in der Mark bekam, Niklas und Horn ("Kollege" von uns genannt), vor allem aber des Herrn Meisterknecht, der Theologe hatte werden wollen, dann aber der Philologie treu blieb. Er war bis zu seinem Lebensende an unserer Schule. Er erteilte viele Jahre lang bevorzugt den Religionsunterricht und hat allen seinen Schülern ein ganz großes Positivum mitgegeben. Er hat uns gelehrt, den Trennungsstrich zu ziehen zwischen dem Wort Gottes und menschlicher Unzulänglichkeit und Verbundenheit mit den Erkenntnissen seiner Zeit. Er hatte auch Humor, und so durfte ein Frechdachs es im Deutschunterricht mal später wagen, auf die Frage nach der Definition eines Nähtischchens zu schreiben, dies sei ein aus "Balken und Brettern zusammengesetztes Möbel zum Zwecke . . .". Und "Maitreknight", wie er in unserem Schülerjargon hieß, liebte alles Berlinerische, denn er war dort einstmals im Gymnasium zum grauen Kloster zur Schule gegangen. Der Herr Oberlehrer Bergmann war ein gerechter und überlegter, ein ruhiger und kluger Schulleiter, den die jüngeren der Schüler allerdings nur vom Schulhof und den Schulspaziergängen her kannten, von den Andachten und den gelegentlichen Besuchen während des Unterrichts. Wie ein guter Hirte geleitete er uns gern in den schönen Zoppoter und Großkatzer Wald, und eine solche Wanderung schloss dann immer im Großen Stern bei einem Glas Natur-Himbeerlimonade zu den in unseren Botanisiertrommeln mitgebrachten Stullen.
Eines Tages, als wir aus den Ferien wieder in die Schule kamen, war Herr Bergmann weg, und ein neuer Direx, Dr. Otto Kulcke aus Breslau, war da. Das war im Jahre 1903. Er hat bis zum Jahre 1914 die Anstalt geleitet, die nun, ohne dass wir Schüler etwas davon wahrgenommen hatten, Zoppoter Realprogymnasium hieß. Der Obrigkeit war wohl klar geworden, dass es bei dem stetigen Wachstum Zoppots in dem bisherigen Gleis nicht weiter ging. Zwar waren unsere Eltern schon froh gewesen, dass es die höhere Knabenschule bisher gab und uns so die Eisenbahnfahrt zu einer Danziger Schule erspart blieb, ganz zu schweigen von den Schülern, die vom Lande aus den Kreisen Neustadt und Putzig zu uns kamen.
Aber nun waren sie noch froher, als der weitere Ausbau zu einer Vollanstalt gesichert war. Zoppot wollte damit einen Anreiz zu weiterem Zuzug bieten, und so wurde geplant. Eine neue große Volksschule in der Danziger Straße wurde gebaut, das alte Schulhaus in der Schulstraße, später Mackensenallee genannt, wurde für uns um vier Klassen, eine Aula und ein neues Treppenhaus erweitert, und Ostern 1904 durften wir dorthin umziehen. Es war im Vergleich zu dem Vorher eine erhebliche Verbesserung. Dort gab es große Klassenzimmer, Zweiplatzbänke, Zentralheizung und einen sehr geräumigen Schulhof. Fünf Jahre sind wir dort geblieben, bis zum Frühjahr 1909. Ein großer Zustrom neuer Schüler setzte ein.
Im ersten Schuljahr 1903/04 blieb im wesentlichen noch alles beim alten bei dem Lehrkörper, doch bald tauchten nun die neuen Herren Oberlehrer auf. Dieser Titel allerdings verschwand einige Jahre später, er ging auf die Volksschullehrer über und der Studienrat, der Studienassessor, der Studienreferendar wurden geschaffen, und zum Wohlgefallen der Hochschuldozenten wurden keine neuen Gymnasialprofessoren ernannt. Die neuen Benennungen erweckten allerdings allgemeines Kopfschütteln, denn
ein Assessor ist bekanntlich ein Beisitzer, ein Referendar ein Berichterstatter. Das gab es bei Gericht, war aber unsinnig bei den Philologen. Bei den technischen Berufen ist dieselbe Bezeichnungsweise später auch eingeführt, inzwischen aber wieder fallengelassen worden. Der Lehrkörper unserer Anstalt erhielt mit der Zeit eine Reihe neuer Lehrkräfte, deren Wirken sich allen ehemaligen Zoppoter Gymnasiasten bis auf den heutigen Tag fest eingeprägt hat.
Da war zunächst unser Direktor Dr. Kulcke, ein Neusprachler. Er führte ein strenges, aber gerechtes Gericht, und gerade die, die ihm am nächsten standen, behandelte er mit ausgesuchter Strenge. Sein eigener Sohn fing mal auf dem Schulhof einen vereisten Schneeball mit seinem steifen Hut auf, wie wir ihn uns zur Tanzstunde beschafft hatten, und siehe da, der Hut platzte wie eine aufgeschnittene Apfelsine. Ein Mordsjubel von uns allen folgte, am lautesten der seines Sohnes. Der Vater, der den Vorfall zufällig beobachtet hatte, stürzte herbei, und es gab einen Mordsskandal. Er fand das Ereignis durchaus nicht lächerlich. Unser "Direx" hatte aber sonst ein großes Verständnis für jugendliche Freuden. Er war selbst alter Skifahrer, was zu jener Zeit durchaus keine Selbstverständlichkeit war, und legte den Tanzbelustigungen der älteren Jahrgänge, dem "Lämmerhupf", wie er es nannte, gar keine Schwierigkeiten in den Weg. Ja er veranstaltete aus besonderem Anlass einmal - noch im alten Kurhaussaal kurz vor dessen Abbruch - einen Schulball für Lehrer, Eltern und ältere Schüler. Ich sehe ihn noch heute in alter Art und Verve über das Parkett geschlossenen Walzer tanzen, wobei ob des Schwunges die Frackschöße hinten querab standen. Wir Jungen tanzten damals bereits sehr viel ruhiger, gemessener, und darum staunten wir nur. Er konnte übrigens wunderschön niesen und wandte sich dazu umsichtigerweise gegen das Fenster. Einige von uns behaupteten, sie sähen jedesmal dabei im Sonnenlicht einen Regenbogen. Er war Hauptmann der Landwehr, führte in den kritischen Februartagen 1915 in Ostpreußen ein Bataillon und ist von da nicht zurückgekehrt.
Unser Altsprachler war Studienrat Dr. Krah, von uns "Cäsar" genannt, ein Ostpreuße, der eigentlich Offizier hatte werden wollen, wegen eines Sturzes vom Pferd aber hatte umsatteln müssen. Er war ein ausgezeichneter Pädagoge mit einem besonders gut ausgeprägten Sinn für Menschenführung. Er hatte auch Humor. Wie freute er sich, als in einem Aufsatz über das römische Haus "Das Innere eines Frauenzimmers" von einem nichtsahnenden Schüler besprochen wurde. Aufsätze waren bei ihm sehr scharf gegliedert, und wir hatten bald heraus, dass seine Themen aus Aufsatzbüchern stammten, so dass zu beiderseitigem Wohlgefallen fortan alles ziemlich glatt lief. Eine besondere stille Freude bereitete ihm unsere Neigung für Ritter- und Räuberspiele. Darum veranstaltete er öfter mit zwei Klassen von uns solche im Zoppoter Walde, wobei dann alle in Karl-May-Büchern erworbenen Kenntnisse im Kundschaften, Auflauern und Überlisten der Gegner angewandt wurden. Sein besonderes Interesse galt auch den Spielen auf dem grünen Rasen, dem Barlauf, Hockey und Schlagball, wie überhaupt dem Turnen.
Unser Mathematiker war Dr. Tümmler. Die jüngeren Zoppoter Schüler werden nur dessen Bruder kennen, der erst später an unsere Anstalt kam und der wegen seines an Mauern und Zäunen wie dahinfliegenden Ganges den Spitznamen "Mauersegler" führte. Unser Mathematiker war eine biedere westpreußische Seele, von der Oxhöfter Kämpe aus einem Forsthause stammend, der einen herrlichen Dialekt sprach. Ich höre ihn noch, wie er, an der Tafel im Vorrechnen vertieft, die Unruhe der Klasse verspürend, sich plötzlich umwandte und mit Stentorstimme unmissverständlich brüllte: "Heeh! Sitzen Se ruhich! Flistern Se nich, lassen se die Feixerei! Brisseln Se nich dahinten!" Damit wendete er sich wieder seiner Tafel zu, trumpfte dort mit dem Zeigefinger auf, dass sie sichtlich bebte, und verkündete mit größtem Ernst: "Diese Formel missden wir umformeln!" Oder aber, wie er bei der Schulhofaufsicht vom entlegensten Ende einen Schüler anbrüllte, der verbotswidrig die Turnleitern erklommen hatte: "Heeh! Sie! Jehn Se runter vons Jerist!" Ja, da musste man feixen, ob man wollte oder nicht. Als er einmal an Kaisers Geburtstag in der Aula den Festvortrag über Deutsch-Südwest-Afrika hielt, erzählte er dabei, dass die Hereros keine Haare auf dem Hinterkopf haben, weil sie sich diese beim Schlafen auf dem blanken Erdbodfen ausscheuern, und dass die Hottentotten sich eine Jagdbeute auf einen Sitz einverleiben und dabei kugelrunde Bäuche anfuttern. Die für Mathematik Begabten haben bei ihm ein sehr gutes Fundament für ihr ferneres berufliches Wissen legen können; Er wurde hernach Direktor in Riesenburg.
Bei unserem Englischlehrer Dr. Turner fing jede Stunde mit der Frage an: "What can you teil me about.. .?" Sehr zum Unterschied von älteren Lehrmethoden liebte er es, einen größtmöglichen Teil der Unterrichtsstunden in englischer Konversation zu verbringen, was uns allen nützlich geworden ist. Er führte den Spitznamen "Big Ben" nach der dicklichen Glocke im Londoner Parlamentsgebäude, die gleich am Anfang unseres Lehrbuches vorkam. Trotz einer leichten Neigung zur Rundlichkeit war er sehr behende. Mit seinen munteren Äugelein und seiner rosigen Haut nebst den leicht rötlich schimmernden Haaren war er das, was die weibliche Jugend damals ein Marzipanschweinchen nannte. Er wurde später Direktor einer neuen höheren Schule in Tiegenhof.
Den Geschichts- und Geographieunterricht erteilte Studienrat Weber.. Leider gab es dabei noch nicht die heutigen Anschauungsmittel, Lichtbilder und Film im Unterricht, so dass wir zumeist nur Zahlen und Namen büffelten und der rote Faden, der sich durch das Weltgeschehen hindurchzieht, erst später nach der Schulzeit erkennbar wurde. Das war aber durchaus nicht nur an unserer Schule allein so. Weber war ein sehr korrekter Lehrer, der etwas steif wirkte, ohne es zu sein. Er hatte einen stets wippenden Gang und ist über sein schulisches Wirken hinaus allen Zoppotern als ein eifrig begeisterter Tennisspieler bekannt.
Dann soll noch unseres Gesangslehrers Gerstenberger gedacht werden. Er war Organist an der evangelischen Erlöserkirche. Wir haben bei ihm schöne Chöre (Lied von der Glocke) gesungen und auch in Schulkonzerten aufgeführt. Dazu hatte er ein sehr wirksames Schülerorchester aufgestellt. Er gab anfangs auch Zeichenunterricht und Elementarfächer. Wir haben bei ihm mit Stift und Pinsel darstellen gelernt. Mit einem sehr billigen Witz brachte er in den unteren Klassen die Lacher auf seine Seite: "Was kostet der Fünfpfennigbleistift?" Er war eine große stattliche Person mit hoher Stirn und seitlichen Haarwellen.
Jahr für Jahr wurden für das Progymnasium neue Klassen aufgebaut, und Ostern 1907 wurden die ersten Abschlusszeugnisse für die mittlere Reife erteilt. Das nannte man damals "das Einjährige machen", ein heute schon weitgehend nicht mehr verständlicher Ausdruck. Die nach Obersekunda Versetzten erwarben damit die Berechtigung zum einjährig-freiwilligen Militärdienst. Mit diesem Zeugnis gingen damals die ab, die mittlere Beamte, Kaufleute oder Bankbeamte werden wollten. Seinerzeit war man noch nicht so anspruchsvoll, überall das Abitur zu verlangen. Im Jahre 1909 war es dann soweit, dass die Klassenräume im Schulhaus nicht mehr ausreichten, zumal alle Sonderunterrichtsräume fehlten. Inzwischen war das neue Schulhaus in der Königstraße erbaut worden, und zu Ostern fand die feierliche Einweihung statt. Es war damit, wie unser Direktor damals sagte, ein weiterer wichtiger Markstein in der Geschichte unserer Anstalt erreicht. Das Haus ließ eigentlich keine Wünsche offen. Es war gut besonnt, verkehrsfern gelegen, hatte große Schiebefenster, übersichtliche Korridore, Innentoiletten und eine vollständige Reihe von Spezialräumen für Physik, Chemie, Zeichnen, Singen und Handfertigkeitsunterricht. Wir hatten eine eigene - die erste Zoppoter - Turnhalle und es gab ein Direktorwohnhaus. Nun waren die Voraussetzungen für den erstrebten Endzustand erreicht, und zu Ostern 1910 verließen von hier aus die ersten Abiturienten die Schule. Auch in diesem letzten Abschnitt sind natürlich neue Lehrkräfte zu uns gekommen, von denen ich aber nur die nennen will und kann, von denen wir Älteren unterrichtet wurden.
Da war zunächst Studienrat Dr. Dannenberg, von uns Jungen "Fichtenhügel" genannt, unser Deutschlehrer Mit ihm hatten die Standardaufsätze ein Ende. Er war ein Vorkämpfer für ein einwandfreies, ungewundenes Deutsch, ein begeisterter Anhänger des "Kunstwart", seines Herausgebers Avenarius, des Dürerbundes und damit der Kunst. Er hat mit uns Klassikeraufführungen (Antigone) und bunte Abende in der Aula gemacht und auch einen Sinn für andere jugendliche Freuden gehabt. So förderte er das Schülerrudern durch Beschaffung einer alten Marinegig, war ein ausgesprochener Freund des "Wandervogels" und abhold allen Neigungen zur Nachäffunq studentischer Sitten. Von Statur war er groß und hager, hatte einen Spitzbart und trug eine Brille. Im übrigen war er abstinent und Nichtraucher. Später wurde er Direktor des Realgymnasiums in Nachfolge von Dr. Barth. 1951 ist er gestorben.
Eine sehr markante Persönlichkeit war auch Studienrat Dr. Reinecke, ein Berliner, mit reinstem Spreewasser getauft. Er betätigte sich streng national, war aber ein erbitterter Nazigegner und wurde deshalb von diesen kaltgestellt. Schlechte Schülerleistungen pflegte er als "Hundefutter" zu bezeichnen und hatte damit seinen Spitznamen weg. Längere Zeit war er als Nachfolger von Dr. Dannenberg Direktor der Schule.
Unser Physiker war Studienrat Meyer, bei dessen Unterricht stets ein großes fachliches Interesse herrschte, zumal ja viel experimentiert wurde. Er verstand es, das Wissen in uns ohne viel Pauken zu pflanzen, dass man davon ein ganzes Leben zehren konnte. Er war ein sehr kluger, besonnener Kopf.
Bei dem Chemiker Dr. Dahms nahm das Einprägen des Wissens eine besondere Form an, die auch bei anderen Disziplinen wohl Nachahmung verdient. Er ließ uns im Lehrbuch Stichworte unterstreichen und sorgsam einpauken. Diese Gedächtnisstütze hat manchem von uns auch noch über Hochschulprüfungen hinweggeholfen. Er hieß bei den älteren Schülern als Vater zweier Töchter "Papa Dahms". wurde aber von den jüngeren "Kleiner Mann" genannt, weil er so die ihm mit Namen unbekannten Knaben anzureden pflegte. Er hatte ein volles blühendes Gesicht mit einem gepflegten Spitzbart und einem koketten Augenzwinkern. Er wurde nach dem Tode von Dr. Kulcke Direktor unserer Anstalt, starb aber leider auch früh.
Zu nennen wäre dann noch unser Zeichenlehrer Hundrieser, ein sehr kleiner Mann mit einer harten südostpreußischen, aber dialektfreien Aussprache, dem es gelang, körperliches Sehen und Darstellen zu vermitteln. Nur schade, dass die Kunst des lichten Aquarellierens uns verschlossen blieb. Wir arbeiteten bevorzugt auf einem grauen Papier, das zum deckenden Ubermalen zwang.
Von den Herrn des Kollegium, die wohl schon zu meiner Schulzeit an der Anstalt waren, bei denen ich aber keinen Unterricht hatte, kann ich nicht sprechen, zum Beispiel von Dr. Timm, Nörrenberg, Kiessing, Rindfleisch. Marung, Pietzner und sicher noch manchem anderen. Durch die besonders oben Genannten wurde gewissermaßen das Fundament gelegt für eine Entwicklung, die in jeder Beziehung gesund war. Im Anfang des Jahres 1910 wurde die erste Abiturientenprüfung abgehalten. Die Anstalt hieß fortan Realgymnasium. Bis 1945 haben 36 Jahrgänge diese Schule verlassen. Jedesmal leuchteten rote Stürmer mit blaugelber Kordel daran für kurze Zeit durch Zoppots Straßen. Wohin mag das Geschick alle diese Männer verschlagen haben?
Schon im Jahre 1911 wurde ein Verein ehemaliger Schüler gegründet, der uns im "Pommerschen Hof" besonders während der Hochschulferien stets froh vereinte. Alle alten Anekdoten wurden dabei aufgewärmt und der Abend stets mit einem vom Gastwirt Weller selbst aufgetragenen "Tellerche Fleck" beschlossen. Während des Krieges ging dieser Zusammenhalt dann verloren, doch soll der Verein später wieder aufgetan worden sein.
Für manchen von uns erschien die Studienzeit noch gewisse Freizügigkeiten zu bieten und unbeschwert zu sein. In Wirklichkeit trat aber schon damals der Ernst des Lebens an uns heran, der Ernst, der uns bis heute nicht losgelassen hat und bis an unser Ende nicht loslassen wird.
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Viele Grüße aus dem Werder
Wolfgang