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Thema: Zeitzeugen der Stadt Speyer berichten...

  1. #1
    Gast
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    Wiesbaden/Addis Ababa
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    503

    Standard Zeitzeugen der Stadt Speyer berichten...

    Es macht schon neugierig, wenn die äußerst erzählfreudige Gesprächspartnerin von
    "guten Menschen aus Speyer" berichtet, denen sie in ihrem Leben begegnet ist,
    zumal Inge Goertz, geboren in Danzig, sich als Preußin bezeichnet.

    In dieser Stadt, die aufgrund des Versailler Vertrages 1919 ein Freistaat unter
    der Kontrolle des Völkerbundes war, erlebte sie ihre Jugend, geprägt von einem
    konservativen Bürgertum, auf Tradition und Etikette achtend. So mußte man bei
    den Eltern anklopfen, wenn man deren Zimmer betrat, es galten strenge
    Tischsitten und recht früh, mit 15 Jahren war sie verlobt mit einem Bräutigam
    aus gutem Hause.

    Dann kam der Krieg, der Vater, Reserve-Offizier, und der ältere Bruder fielen,
    die Mutter wurde krank und starb 1942. Inge, noch in der Schule, war Vollwaise,
    kam in ein Internat in Thorn, wurde dann zum RAD (Reichsarbeitsdienst)
    eingezogen und kam als Wehrmachtshelferin an die Ostfront, wo sie unter anderem
    als Helferin bei einer Feldküche mit 18 Gulaschkanonen zentnerweise Kartoffeln
    schälen mußte.

    Die Front rückte näher; Inge wollte nach Danzig zurück, geriet aber in den
    russischen Vormarsch und überquerte bei Thorn gerade noch die Weichselbrücke,
    die hinter ihr gesprengt wurde. Sie überstand einen schrecklichen Bombenangriff
    der Russen auf Danzig und wurde unter dramatischen Umständen davon abgehalten,
    an Bord der "Wilhelm Gustloff" zu gehen. "Bei eisiger Kälte und Schneetreiben
    überholte ich in der Hindenburgallee eine Mutter, die ihre zwei Kinder vor sich
    her schob. Bei einem Blick in den Kinderwagen sah ich, daß die Kinder tot waren.
    Schreiend und verstört eilte ich zurück zu Lina, unserem alten Kindermädchen.
    Das war meine Rettung".

    In einem Bus, wo sie Waisenkinder vom Flüchtlingstreck aus Ostpreußen zu
    betreuen hatte, gelang ihr die abenteuerliche Flucht bis Quedlinburg, wo sie das
    Kriegsende erlebte, später das Nachabitur ablegte, in Halle a.d.S. Psychologie
    und Sozialpädagogik studierte und beruflich tätig wurde. Ihr Verlobter, der über
    den Suchdienst des Roten Kreuzes zu ihr stieß, fand in einem KFZ-Betrieb Arbeit.
    Inzwischen kam 1948 ihr erster Sohn zur Welt.

    Den Chef des Autobetriebes zog es nach Mannheim und Inges Mann fuhr mit ihm über
    Berlin nach dem Westen. Besagter Chef war Studienkollege von Artur Hebel sen.
    Durch diesen Kontakt kam Inges Mann nach Speyer zur Schiffswerft Braun (Peter
    Hebel). Mit Hilfe von Schleusern gelang dann Inge eine abenteuerliche und
    gefährliche Flucht über die grüne Grenze. In Speyer kam sie am 1. Mai 1951 an.

    Jetzt traten die guten Menschen von Speyer in Aktion, sei es das Wohnungsamt und
    das Sozialamt, sei es die Familie Hebel als "Lebens-Hilfe" für die junge
    Familie, sei es Bruno Schwind und Rektor Krill bei der guten
    Nachbarschaftspflege. Jedenfalls bezog die Familie Ewald am 1. Oktober 1951 eine
    Wohnung in der Goethestraße, so daß das zweite Kind 1953 dort sein zu Hause
    fand.

    1958 zog man aus beruflichen Gründen nochmals nach Norden. Ehemann Eckart Ewald
    fand als Spezialist für Schiffsantriebe eine Beschäftigung in Bremen; es ging
    aufwärts. Leider führte eine Ehekrise zur Scheidung. Frau Inge Ewald mußte sich
    beruflich neu orientieren und wirkte als Sozialpädagogin in Bielefeld. Zufällig
    führte eine Sommerbetreuung von Jugendlichen 1967 sie in die Speyerer
    Jugendherberge, wo sie erneut den Anker warf. Schulrat Flick suchte Kräfte für
    die Sonderschule; Frau Inge Ewald erhielt die Zusage und wurde eingestellt; sie
    fand eine Wohnung bei der Autolackiererei Zimmermann. Seit 1986 ist sie in Rente
    und lebt als bekennende Danzigerin im fast mediterranen Speyer, seit 30 Jahren
    liebevoll betreut von ihrem italienischen Mann aus Neapel. "Dies sollte ein
    "Dankeschön" sein, an alle Speyerer, die uns "Flüchtlinge" gutherzig aufgenommen
    haben."

    Theodor Folz und Hubert Gerner
    --------------------------------------------------------------
    Ingeborg Lore Lingnau (Ewald / Goertz)
    geb. am 11.5.1926,Freie Stadt Danzig, Langfuhr, Hauptstr.33
    gest. am 25.10.2009, Deutschland, Speyer
    --------------------------------------------------------------

  2. #2
    Forum-Teilnehmer Avatar von jonny810
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    Standard AW: Zeitzeugen der Stadt Speyer berichten...

    Interessanter Beitrag, finde ich.

    Noch eine schöne Woche.
    Es grüßt herzlich, Erhart vom Schüsseldamm.
    "Nec Temere - Nec Timide"
    Eine Freundschaft ist das, was man aus ihr macht. EKJ

  3. #3
    Forum-Teilnehmer Avatar von Uwe
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    Beiträge
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    Standard AW: Zeitzeugen der Stadt Speyer berichten...

    Ja ein sehr interessanter Bericht, habe ihn gerne gelesen.


    Herzliche Grüße

    Uwe
    Geschichte kann man nicht ändern ... aber man kann aus ihr lernen!

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