Aus "Unser Danzig", Nr. 6 vom 20.03.1963, Seite 8

Polnischer Gefangener auf Schießstange
von Gustav Penner

Neun Monate habe ich, nach Festnahme durch die Polen, im Gefängnis Schießstange gesessen. Es war verdammt keine humorvolle Angelegenheit. Und doch war ab und zu ein bitterer Humor dabei, er half über manche seelische Depression hinweg.

Weshalb ich auf Schießstange eingesperrt wurde? Ja, wenn ich das wüsste! Der Pole wusste es ja selber nicht. Es war so: Sechs Monate wurde ich überhaupt nicht verhört. Dann auf einmal in der Nacht, alles raus aus den Zellen. Hin zur Stationsschreibstube, Protokoll ausfüllen. Langer Fragebogen. Unter anderem die Frage: Weshalb eingesperrt? Antwort: "Möchte ich selbst wissen!" Ja, weshalb? Weshalb scheint die Sonne, weshalb grünen die Bäume? Ein normaler Verstand kommt da nicht mit.

Mein Zellengenosse war Ludikus, ein überzeugter Kommunist. Wir anderen beiden Zelleninsassen sangen jedes Lied, was uns im Gedächtnis haften geblieben war. Ludikus gab zur Abwechslung kommunistische Lieder zum besten, und so ging es immer im Wechselgesang. Wir vertrugen uns recht gut. Ludikus war eine Marke für sich. Sein Schlachtruf war: Hunger, Hunger! Aber er parierte nicht den Wärtern. Er schlief am Tage, was verboten war. Ihm wurden eine Nacht die Decke und Matratze entzogen. Nachts tobte er herum und verlangte, wir sollten ihm unsere Decke geben. Die polnischen Wächter mischten sich in den Klamauk. Es war ein großer Zirkus. Am Morgen darauf erhielt er seine Decke wieder, jedoch anderen Tags war er tot. Seine Tagesportion Brot blieb uns als sein Nachlass und ein Stück Seife. Waschen tat er sich nämlich nicht, Ludikus wurde wie so viele andere aus der Zelle getragen.

In gewissen Abständen wurde die Zelle geplündert. Alles Verbotene wurde weggenommen. Einen Löffel und einen Essbehälter durfte man behalten. Als letzteren hatte ich lange einen Spucknapf; dieser war schon feudal. Anfangs bestand das Essgeschirr für sechs Mann aus einem Wasserglas und einer Waschschüssel.

Nach vier Monaten war an jedem Tag eine Viertelstunde lang Spaziergang auf dem Hof. Fünf Schritte Abstand, Hände auf dem Rücken. Vor den Zellen brüllten die Wärter: "Spatzer, spatzer" (Spazierengehen). Dann wurde auf dem Flur angetreten. Nun sollte auf polnisch abgezählt werden, aber es klappte nie. Die verdammten Germannskis kapierten es nicht. - Weihnachten, Heiligen Abend, gab es einen großen Hering. Unter den obwaltenden Umständen war es ein phantastisches Geschenk. Die halbe Portion gab es etwas später, und zwar zum russischen Weihnachtsfest; dies stand nicht so hoch im Kurs.

In den ersten sechs Monaten fraßen uns die Läuse bald auf. Dann wurden sie bekämpft. Eine junge Wärterin im schneidigen Dress mit Czappka auf dem Kopf führte die schöne Männlichkeit (alles Skelette) zum Brausebad und beaufsichtigte diese Prozedur. Unsere Zelle war entlaust. Gott sei Dank! Da, plötzlich wurden zwei Männer hereingeführt. Sie waren wie mit Schnee beschüttet: alles Läuse. Es waren putzige Gestalten. Einlieferungsgewicht je 2 1/2 Zentner. Jetzt wogen sie vielleicht jeder 100 Pfund, hatten aber dieselben Anzüge an.

Wo mag mein lieber Zellengenosse Emil Genoneit stecken? (Tischlermeister in Langfuhr, Müggenwinkeler Weg, Siedlung). Er war eine Seele von Mensch. In den letzten Monaten durften Pakete, aber nichts Schriftliches geschickt werden. Seine Frau war noch in Danzig, und jeden Sonntag erhielt er von ihr etwas zum Essen. Die ganze Woche zehrten wir von diesem Ereignis. Immer war es eine bange Frage, ob es kommen würde. Wenn es dann soweit war, sagte Emil: "Kinder, kommt sehen, was Muttchen mir geschickt hat!" Jedem von uns gab er reichlich ab von seinen wenigen Stullen. Und wie das schmeckte! Die Zunge wusste gar nicht wohin vor Begeisterung. Aber bald war es aufgegessen. Das Warten auf den nächsten Sonntag begann. Kurz vor Weihnachten hörten die Sendungen auf, eine für alle traurige Angelegenheit. Wo mochte Muttchen geblieben sein? Emil Genoneit blieb bei unserer Entlassung allein in der Zelle zurück. Wehmütig blickte er uns nach, als wir von ihm schieden. Ob er lebend herausgekommen ist?

Wir beiden anderen aus seiner Zelle waren frei. Ohne Geld, Papiere, in Lumpen gehüllt und zum Skelett abgemagert, standen wir auf der Straße. Es war Januar. Der Schnee fegte durch die zerschossenen Gassen. Und wir hatten Hunger, Hunger, Hunger! Weshalb wir entlassen wurden? Ja, weshalb? Weshalb ist es im Winter kalt, weshalb ist das Wasser nass? Es ist und war nun einmal so; wir waren Fatalisten geworden.

Wir waren aus der Hölle lebend entlassen worden. Es war nach allem Erlebten ein Wunder. Unser Abschiedsgruß aber galt den vielen, die es nicht geschafft hatten. Es war weitaus die Mehrzahl.

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