Aus "Unser Danzig", Ausgabe Nr. 10, 20. Mai 1990

Wanderung nach Vogelsang
von Kurt Hübert

Die großen Ferien standen vor der Tür, und wie jedes Jahr gab's noch einmal einen Ausflugstag der Schule in Stutthof. Die sechste Klasse hatte sich etwas Besonderes vorgenommen. Das Ziel war Vogelsang, ein Ort auf der Frischen Nehrung. Dort wollten wir die Schule mit ihrem Lehrer Herrn Werner besuchen. Herr Werner war Lehrer bei uns in Stutthof, bis er sich nach Vogelsang versetzen ließ, um dort abseits von Hektik und Trubel wirken zu können. Unser Klassenlehrer Herr Gustav Schröder hatte schon mit Herrn Werner Kontakt aufgenommen, und so konnte unsere Wanderung beginnen.

Morgens um sieben Uhr, mit Schulbeginn, machten wir uns auf den Weg. Es war außerdem noch eingeplant, für die Naturkunde einiges zu besichtigen. Unser Weg führte zur Hinterheide. Bis Rodes, unserem Geflügel- und Gemüsehändler, war noch ein breiter Fahrweg. Dann mussten wir im Gänsemarsch über einen Gehweg durch Wiesen gehen. In dem Wiesengrund lag noch ein leichter Nebel. Am Zaundraht hingen Tautropfen, in denen sich das erste Tageslicht brach, das die Tropfen zu glitzernden Perlen erscheinen ließ. Die Kühe, die auf der Weide standen, schauten mit ihren großen Augen wiederkäuend unserem fröhlichen Wanderzug nach. So erreichten wir den Strandweg, der durch den Wald zum Strand führte.

Erstmals kam unser Zug zum Stehen, da einige hinterher trödelten. Ein herrlicher Duft wehte um unsere Nasen. Es roch nach frisch gebackenem Brot. In der Nähe war die Bäckerei Penner, und dort wurden gerade die Brote aus dem Ofen geholt. Die Bäckerei war für ihren gedeckten Apfelkuchen mit Blätterteig bekannt. Die Gedanken an diese Köstlichkeiten mussten wir schnell verdrängen, denn unser Weg in Richtung Wald ging weiter.

Die letzten Häuser von Stutthof lagen hinter uns, der Wald nahm uns mit seiner Frische gefangen. Zur linken Seite hinter einem Hügel lag das Stutthofer Moor. Ein Teil des Moores war zur Landgewinnung zugeschüttet und mit Lupinen angesät, die in bunten Farben schillerten. Der Rest des Moores war für uns Gegenstand des Naturkundeunterrichts im Freien gewesen. Es lebten dort Schlangen und Molche, die wir fingen und in Aquarien und Terrarien in der Schule hielten. Nach einiger Zeit brachten wir sie jedoch wieder ins Moor zurück. Es war Vorsicht geboten, denn auch Kreuzottern waren dort anzutreffen, und ein Biss dieser Schlange konnte schon gefährlich werden.

Wir ließen das Moorgebiet hinter uns und kamen dann an den Weg, der in Richtung Bodenwinkel führte. Dies war ein Weg, der wie an einer Schnur gerade durch den Wald verlief. Unsere Schritte waren kaum hörbar, denn der Boden war mit Tannennadeln übersät, die unsere Schritte dämpften. Eine frische Kühle umgab uns; eine Luft zum Durchatmen. Das gab unserem Lehrer die Gelegenheit, etwas für unser körperliches Wohl zu tun. Wir mussten uns im Halbkreis aufstellen, die Arme hochheben, den Körper vorbeugen und dabei tief durchatmen. Auf und nieder immer wieder! Das tat gut, und weiter ging unsere Wanderung.

Unser Lehrer bat uns nun um absolute Ruhe. Ein Klopfen drang an unser Ohr. Ein Buntspecht bearbeitete einen Baumstamm, um an sein Futter zu kommen.

Durch die Wipfel der hohen Kiefern drangen Sonnenstrahlen, die wie gleißende Finger auf den Waldboden fielen und den Wald in eine Zauberlandschaft verwandelten. Ein Hase hoppelte vor uns auf dem Waldweg und verschwand im Unterholz. Zwei Rehe kreuzten unseren Weg; sie blieben zwischen den Bäumen stehen, stellten ihre Lauscher in Richtung Wanderer und verschwanden dann schnell in den Tannen. Die hohen Kiefern gingen in eine Tannenschonung über. Wir hingen unseren Gedanken nach. Es war wie im Märchen. Dort hätte ein Hexenhaus stehen können, oder hier hätte Rotkäppchen dem Wolf begegnen können.

Unsere Gedanken wurden von Arbeitsgeräuschen unterbrochen, die von der Försterei Bodenwinkel herkamen. Der Waldweg mündete in einen Kiesweg, der auch Poststraße genannt wurde. Dieser Weg führte durch den Nehrungswald 70 bis 80 Kilometer über Pröbbernau und Kahlberg nach Neutief bei Pillau. Rechts von dem Kiesweg waren Neuanpflanzungen gemacht worden, die den Blick auf das angrenzende Dorf freigaben. Durch Bäume und Gebüsche waren nun die ersten Häuser von Bodenwinkel zu sehen.

Unser Wanderweg verlief parallel zur Dorfstraße von Bodenwinkel. Wir waren jetzt schon fast eine Stunde unterwegs. Bodenwinkel lag bereits fast hinter uns. Über die Tannenspitzen konnten wir erstmal auf das Frische Haff blicken, das im Sonnenschein wie in Silber getaucht vor uns lag.

Um eine Biegung ging unsere Wanderung nun weiter. Tannen und Kiefern spendeten wieder Schatten. Wir verließen den Weg, um über unwegsames Gelände zum Graureiherhorst zu gelangen. Hoch in Kiefern waren die Nester, von wo aus sie ihre Futtersuche im fischreichen Umland unternahmen. Durch den Kot der Reiher waren der Waldboden und die Baumstämme weiß. Es war ratsam, nicht unter die Bäume zu gehen, denn man hätte auch leicht etwas davon auf die Mütze gespritzt bekommen können. Über die Graureiher wollten wir in der nächsten Naturstunde sprechen, und hier am Ort konnten wir die besten Informationen erhalten.

Jetzt war es an der Zeit, unser Ziel Vogelsang zu erreichen. Auf dem Wege durch das Unterholz zur Straße lehnten an einigen Bäumen Eisenfässer; aus der aufgeschlitzten Baumrinde quoll Harz, das in den Fässern aufgefangen wurde und ein wichtiges Naturprodukt war. Wir erreichten nach zweistündiger Wanderung unser Ziel, die Schule Vogelsang.

Das Schulgebäude lag auf einer kleinen Anhöhe direkt am Wald. Der Lehrer Herr Werner und seine Klasse empfingen uns mit einem Lied. Das Dorf Vogelsang und der Musiklehrer Werner waren im ganzen Umland für den Chor und seine Lieder bekannt. Die Erkennungsmelodie dieses gemischten Chores war das Lied "Vogelsang, lustiger Klang, klingt den Wald entlang". Es war sogar oft im Rundfunksender Danzig zu hören.

Etwas ermüdet von der Wanderung fielen wir auf die Bänke, die vor der Schule standen, und packten unsere Butterbrote aus, denn wir waren auch ein wenig hungrig. Nach kurzer Erholungspause begannen wir mit den Spielen, die uns viel Spaß brachten. Nach zweistündigem Aufenthalt neigte sich unser Besuch dem Ende zu.

Wir wollten noch einen Blick auf das Frische Haff werfen. Von der Anhöhe in Richtung Osten lag vor uns Vogelsang, ein Fischerdorf am Haff mit reetgedeckten Häusern. Etwas weiter ragte eine Landspitze ins Haff mit der Kirche von Pröbbernau. Pröbbernau war der Grenzort zwischen Deutschland und dem Freistaat Danzig. Ein weißes Schiff, von Elbing kommend, strebte mit Badegästen Kahlberg zu.

Gegenüber der Nehrung lag die Elbinger Höhe. Die Sonne stand hoch am Himmel, und es war sehr warm. Die Hitze flimmerte über dem Wasser. Dadurch wurde die Sicht etwas getrübt. Nur schemenhaft konnte man das Land erkennen. Es war schon einmal Ausflugsziel gewesen, als wir mit dem Schiff und anschließender Wanderung zum Schloß Cardinen und zur tausendjährigen Eiche gelangten.

Fischerboote mit ihrer typischen Segelstellung, die Angelkähne von Bodenwinkel, die täglich auf dem Haff ihrem Fischfang nachgingen, konnten wir auf dem Frischen Haff ausmachen.

Durch die Aufforderung von unserem Lehrer zum Aufbruch wurden wir aus unseren Gedanken gerissen. Es war an der Zeit, uns auf den Heimweg zu machen. Mit viel Hallo und auf Wiedersehen machten wir uns auf den Weg entlang am Haff in Richtung Bodenwinkel.

Nach etwa zwei Kilometern erreichten wir die ersten Häuser von Bodenwinkel. Unser Zwischenziel war der Hafen von Bodenwinkel. Dort lag das Gasthaus Gieseler. Hier legten oft Vergnügungsschiffe mit Vereinen an, die hier ihre Feste feierten. Noch war Ruhe im Hafen, aber in einigen Stunden, wenn die Angelkähne ihren Fischfang anlandeten, würde dann ein reges Leben herrschen. Wer noch ein paar Dittchen mithatte, der konnte jetzt hier noch Bonbons und Brause kaufen.

Mittlerweile waren dann auch unsere Nachzügler angekommen, und weiter ging unsere Wanderung. Wir hatten jetzt fast die Mitte des Dorfes erreicht, vorbei an den Fischräuchereien, die geräucherte Aale und Flundern an den Markt lieferten. Die Schule von Bodenwinkel lag verlassen da; die Kinder waren bereits nach Hause gegangen. Die Fischerhäuser mit ihren Vorgärten, in denen Blumen blühten, und das Haff hatten wir nun hinter uns gelassen.

An der Schmiede ist jetzt noch einmal Halt zum Sammeln, denn unsere Wanderer wurden langsam müde. Auf ging's zur letzten Etappe.

Von der Schmiede führte ein Weg an den letzten Häusern von Bodenwinkel vorbei. Links breiteten sich grüne Wiesen von Hinterstutthof aus. Wir erreichten den Kasenwall, ein Fahr- und Gehweg nach Stutthof, der am Spritzenhaus endete.

Hier ging auch unser Wandertag zu Ende. Die Klasse versammelte sich noch einmal, und unser Lehrer Herr Schröder verabschiedete uns für heute. Wer noch nicht müde war, ist noch zur Weichsel gegangen, um ein kühles Bad zu nehmen. Es war ein anstrengender Tag, aber es war auch ein schöner Tag, der noch lange in unseren Erinnerungen geblieben ist.

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