Die letzte Fahrt eines alten Danzigers

Mittwoch, 19. Mai 2005

Vor etlichen Jahren -mein Vater hatte sich gerade von einer schweren Krebsoperation halbwegs aufgerappelt- suchte er ein Gespräch mit mir. Über nicht erfüllte Sehnsüchte, über Vergänglichkeit, über das Sterben, den Tod, über die Heimat. Er sagte mir damals, er wolle nach seinem Tode unbedingt auf See bestattet werden, in der Danziger Bucht, die Küste in Sichtweite. Seinerzeit war das nicht ohne Weiteres möglich und so bat er mich nachdrücklich, selber Sorge dafür zu tragen, dass ihm dieser Wunsch erfüllt werde. Ich solle es irgendwie zu Stande bringen. Sein Traum war, von einem kleinen Fischerboot hinausgebracht zu werden, und ich sollte dann seine Urne in das Wasser gleiten lassen.

Während seiner schweren Erkrankung sprach ich vor einem Jahr noch einmal mit ihm. Er sagte, er habe die Beisetzung testamentarisch geregelt. Im letzten Jahr hoffte ich immer, sein Zustand werde sich noch einmal bessern, aber trotzdem war ich auf ein plötzliches Ableben vorbereitet. Ich hatte für diesen Fall bereits vorgesorgt. Deswegen konnte ich ihm auch auf Fotos den in Gdingen liegenden Zweimaster "Knuddel" mit seinem Kapitän Hans-Peter Klages zeigen. Interessiert, aber ruhig und gefasst, ließ er sich alles von mir erklären. Dann sagte er: „Mach das man so, mein Sohn". Er war beruhigt, dass ich das alles so in die Wege leiten kann, wie er es sich vorstellte.

Als ich im November letzten Jahres in Danzig war, hatten die Ärzte zwar vor meiner Reise gesagt, sein Zustand sei ernst, aber akute Lebensgefahr bestünde nicht. Umso schockierter und bis ins Mark erschuettert war ich, als ich am 13. November nach einer Veranstaltung bei der Deutschen Minderheit -ich hatte dort einen Vortrag über württembergischen Wein mit einer Verkostung gehalten- vom Tode meines Vaters erfuhr. Ich wusste, dass im Winterhalbjahr eine Seebeisetzung zwar nicht unmöglich, aber aufgrund der Witterungsverhältnisse doch erschwert zu durchzuführen sei.

Zurück in Deutschland mussten einige Formalitäten erledigt werden. Nach der Einäscherung in Norddeutschland bewahrte ich die Urne stets blumengeschmückt auf bis zur endgültigen Beisetzung auf See.

Und nun war der Tag gekommen. Ich hatte den 19. Mai schon lange vorher geplant und auf gutes, ruhiges Wetter gehofft. Die Urne hatte ich bereits nach Danzig gebracht. Enge Familienangehörige waren eingeladen.

Gdingen, 10:00 Uhr. Wir warten noch auf Kapitän Hans-Peter Klages. Unsere Autos sind im Yachthafengelände nahe des Schiffsliegeplatzes abgestellt. Ich trage die Urne an Bord und bette sie nahe des Buges inmitten eines farbenprächtigen Blumenmeeres auf einer alten Danziger Fahne. Mein Sohn Martin baut seine Kamera zusammen, filmt erste Bilder. Meine Mutter setzt sich, unterhält sich mit unseren Danziger Verwandten. Von ihnen sind zwei Cousins, Henryk und Siegfried Naujocks mit seiner Frau gekommen. Außerdem Peter Oestmann, einer der Betreiber des Minigolfclubs in Zoppot, der meinen Vater zwar nicht persönlich kannte, sich aber prächtig mit ihm verstanden hätte.

Die Sonne lacht vom strahlend blauen Himmel. Es geht ein frischer Wind, aber es scheint heute der erste Tag zu werden, an dem wir wirklich Glück mit dem Wetter haben. Ein Stückchen draußen im Hafenbecken übt eine Segelschule Wenden und Halsen. Kurze Kommandos hallen über das Wasser.

Hans-Peter Klages, der Kapitän, ein alter Hamburger Seebär, schon lange in Gdingen wohnend, kommt an Bord. Seine stämmige Gestalt mit wettergegerbtem rotem Gesicht das von schneeweißem lichtem Haar umrahmt wird, schiebt sich auf mich zu und fragt kurz anteilnehmend „na, wie geht's?"

Der Kapitän meldet dem Gdingener Hafenmeister per Funk das Bordpersonal und die Anzahl der Fahrgäste. Ruhig werden die Leinen gelöst und unter Motor verlässt die „Knudel" unter schwarzer Trauerbeflaggung den Hafen, fährt hinaus auf die See. Der Wind frischt auf und anfangs befürchten wir, Blumen könnten über Bord geweht werden. Aber nach Einnehmen des richtigen Kurses kommt er von achtern und wir fühlen fast Windstille.

Der heutige Tag ist wunderschön. Das leicht bewegte Wasser der Danziger Bucht spiegelt den tiefblauen Himmel. Unsere Stimmung ist nicht gedrückt, eher erleichtert, dass die letzte große Fahrt meines Vaters in Kürze beendet sein wird. Adlershorst rückt näher, ist für kurze Momente fast zum Greifen nahe, liegt dann aber auch schon wieder hinter uns. Gedämpfte Gespräche, aber auch ein Genießen der wärmer werdenden Sonne. Barbara, Siegfrieds Frau, kommt, ordnet die Blumen neu, zupft hier ein bisschen, hebt jenes Blumengesteck ein wenig hervor, lässt die roten Rosen ihre volle Schönheit entfalten.

Ich fühle, ich glaube, nein, ich bin mir doch sicher, mein Vater ist bei uns, sieht uns, sagt uns mit einem bisschen Wehmut, nun sei die Zeit gekommen, Abschied zu nehmen. Er ist bei uns, ist zufrieden, dass wir gelöst sind, dass eine leicht heitere Stimmung herrscht. Er war zeitlebens immer kritisch, ungeduldig. Es war schwierig, ihm etwas Recht zu machen. Aber ich weiss, die heutige Fahrt übertrifft all seine Vorstellungen und Wünsche bei Weitem. Jetzt kann er sich hingeben, jetzt muss er nicht mehr ungeduldig sein, er hat alle Zeit der Welt. Er wird bald für immer zu Hause sein. Ich bin trotzdem traurig, sehr, sehr traurig. Übermorgen heirate ich und er hat meine künftige Danziger Frau nie von Angesicht zu Angesicht kennen gelernt. Er sprach mit ihr im letzten Jahr am Telefon, krankheitsgezeichnet, und trotzdem war sie tief beeindruckt von seiner warmen, sonoren Stimme. Wie begeistert wäre er, wie würde er aufleben, könnte er meine Hochzeit übermorgen noch in seiner Heimatstadt erleben…

Kapitän Klages bittet mich zu sich. Bald werden wir die vorgesehene letzte Ruhestätte erreicht haben. Die Beisetzung muss vorbereitet werden. Mein Vater hatte keinen Pfarrer gewünscht und so werden die Aufgabe, dem Toten mit ehrenden Worten zu gedenken, der Kapitän und ich wahrnehmen. Kurz bevor die Maschine gestoppt wird, hülle ich die sterblichen Überreste meines Vaters in die grosse Danziger Fahne. Das weiche seidene Tuch fühlt sich angenehm an. Es war immer der Wunsch meines Vaters gewesen, eines Tages mit dieser Fahne beigesetzt zu werden.

Kapitän Klages spricht bewegende Worte. Das Schiff schaukelt im leichten Wellengang. Es ist 11:00 Uhr. In weiter Ferne und doch aufgrund der klaren Sicht ganz nahe die Westerplatte, Neufahrwasser, Brösen, Glettkau, Zoppot, Adlershorst, Gdingen. Ganz nahe ist die Heimat. Ganz nahe liegt sein zu Hause. Ich schlucke, weiß noch nicht, wie ich überhaupt sprechen soll und kann. Und trotzdem: Nun ist die Reihe an mir. In kurzen Sätzen gedenke ich meines Vaters, erinnere an ihn, sage, er sei ein Mensch gewesen, der es einem nicht leicht gemacht habe, ihn zu lieben. Aber der Tod habe etwas Befreiendes, Erlösendes, Versöhnendes, sowohl für den Verstorbenen als auch für die Angehörigen.

Ich hatte als letzten gesprochenen Gruß zwei Gedichte von Wolfgang Federau ausgesucht. Gedichte, von denen ich nicht weiß, ob sie mein Vater kannte. Ich weiß, sie gefallen ihm. Mit brüchiger werdender Stimme zitiere ich:

Heimat

Du kannst sie tausendmal verlassen.
Und kehrst doch immer ihr zurück.
Sie ist mit Türmen, Kirchen, Gassen
dein unverlierbar letztes Glück.

Sie birgt der Jugend reinste Träume,
sie schließt dich ein wie Mutterschoß.
Sie dehnt sich über alle Räume.
Und nimmer kommst du von ihr los.

So weit kannst du ja gar nicht gehen,
daß du sie einmal ganz vergißt.
Ihr Bild wird dir vor Augen stehen,
wo du auch immer weilst und bist.

So sehr kannst du dir nicht entgleiten,
daß dieses letzte Band zerreißt.
Weil, wo auch immer du magst schreiten,
ein Pfeil steht, der... zur Heimat weist.

Ich muss einen Moment innehalten, meine Stimme versagt, Schmerz droht mich vollends zu überwältigen. Ein Tränenschleier nimmt mir die Möglichkeit, die Verse des zweiten Gedichtes zu lesen. Ich nehme die vom Sonnenlicht stark gedunkelte Brille ab, sehe besser, will fortfahren, kann aber nicht. Kurzes, erstickendes Schluchzen. Ich kann nicht, ich kann einfach nicht! Ich schlucke, schlucke noch einmal, versuche zu mir zu finden. Es sind Augenblicke des stillen Gedenkens, der Ruhe. Den Wind höre ich, fühle seinen kühlen Atem, lausche dem leisen, dem rhythmisch klingenden Glucksen des an die Bordwand schlagenden Wassers. Die See rieche ich, würzig, erfrischend, heimatlich. Ich schließe die Augen, bin bei ihm, meinem schwierigen, meinem gefürchteten, meinem geliebten Vater, möchte nicht mehr zurückkehren, will bei ihm sein, für immer.

Die Sonne blendet, aber ich setze die Brille nicht wieder auf, sondern halte mir das Blatt mit Wolfgang Federaus Worten dicht vor die Augen.

Wartende Heimat

Wohin entfloh, was wir so zärtlich hegten?
Das Haus, das warm und schirmend uns umgeben?
Die vielen Dinge, die wir so liebend pflegten?
Wohin das ganze, so vertraute Leben?

Wo blieb die Stadt, die wir so innig kannten,
in deren Gassen wir als Kinder spielten?
Und wo die Stätte, die wir Heimat nannten,
die wir einmal für ewig unser hielten?

Ist diese Stadt, mit Türmen, Giebeln, Toren,
verträumten Winkeln, alten Wirtshausschildern,
uns wirklich ganz entrissen und verloren?
Lebt sie nur noch in ein paar alten Bildern,

die wir zuweilen in die Hände nehmen,,
wenn Sorge und wenn Heimweh uns umnachten,
und – unsrer Rührung uns zu schämen –
sehr lange und sehr nachdenklich betrachten? …

Nein! Sie ist da, die Heimaterde,
Und wie viel sie des Leides auch erfahren,
sie harret still, dass jene Stunde werde,
da ihre Kinder zu der Mutter fahren.

Nach diesem Gruß nehme ich die rote Danziger Fahne mit der Asche meines Vaters auf, hebe sie steuerbords sanft über die Reling, übergebe sie dem Meer, will einen Moment nicht loslassen, verabschiede mich dann aber mit leiser, erstickender Stimme „Auf Wiedersehen, jetzt hast Du's besser!". Ich schäme mich meiner Tränen nicht. Aber auch ohne sie wüsste mein Vater wie sehr ich um ihn trauer.

Kapitän Klages läutet die Schiffsglocke, vier Doppelschläge, acht Klasen. Der Steuermann nimmt langsam Fahrt auf. Drei Mal umkreisen wir die Beisetzungsstätte und übergeben die Blumen dem Meer, schmücken das Seegrab meines Vaters. Gelb und rot, weiß und grün tanzen die leuchtenden Blüten und Blätter auf dem Meer. Ein großer Kreis, der im Fahrwasser des Schiffes langsam größer wird, sich auflöst, vergeht.

Ein tiefes Aufatmen, ein verstohlenes Wischen der Augen, ein verstecktes Putzen der Nase, ein die Stimme frei machendes Räuspern. Es geht zurück nach Gdingen. Wir holen Wodkaflaschen, wollen auf meine toten Vater, auf unseren verstorbenen Angehörigen trinken. „Das erste Glas bekommt Neptun", sagt Kapitän Hans-Peter Klages, und spendet dem Meeresgott einen guten Schluck Wodka. „Und das zweite Glas soll mein Vater haben", und mit Schwung leere ich das Glas über die Reeling. Wir alle genehmigen uns einen Wodka und dann noch einen und noch einen und teilweise noch einen weiteren ... Ich lache, bin befreit, freue mich, meinem Vater, einem alten Danziger, der sein Herz, seine Sehnsüchte seiner Heimat verschrieben hatte, eine wunder-, wunder-, wunderschöne Beisetzung ermöglicht zu haben.

Die doch sehr bedrückt gewordene Stimmung löst sich bei uns Allen. Wir sind froh, dass mein Vater, dass Siegfried Walter Naujocks, geboren am 02. Januar 1926 im Storchenhaus, seine letzte Ruhe in der Heimat fand. Ich bin mir sicher, er nickt mir jetzt zu, sagt mir „Haste gut gemacht, mein Sohn, bin zufrieden!" Das ist die höchste vorstellbare Anerkennung. Und auch ich nicke ihm zu, sage ihm in Gedanken, hier in Danzig sei er mir näher als irgendwo sonst auf der Welt. Jedes Mal wenn ich hier bin, wenn ich an der See sein werde, wenn ich meine Blicke schweifen lassen kann, aber auch dann, wenn dichte Nebel eine Fernsicht nicht ermöglichen, weiss ich, er ist bei mir.

Wir fahren nun gegen den Wind, aber es ist deutlich wärmer geworden. Kein einziges auch noch so kleines Wölkchen trübt den fast unwirklich tief dunkelblauen Himmel. Das Schiff macht gute Fahrt und in kurzer Zeit laufen wir wieder im Gdingener Hafen ein.

Ich hatte schon vorher alle Abschiednehmenden eingeladen, gut essen zu gehen. Zwischen Zoppot und Oliva gibt es ein gutes kaschubisches Restaurant, das „Zagroda Karczma". Dort gehen wir hin, lassen es uns gut schmecken, schlemmen, gedenken ihm, meinem Vater. Wir essen gut, wir essen so gut, dass mein Vater ganz sicherlich wünschte, physisch bei uns zu sein. Und er war ganz sicher dabei. Zwar nicht physisch, aber das was er sah, wird ihm gefallen haben.

Danke für Alles, danke, mein Vater!

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