Am Frischen Haff

08. Mai 2003, vormittags

Mein Freund Zbyszek hat Urlaub genommen während der Tage die ich bei ihm bin. Trotzdem jagt ihn ein Termin nach dem anderen. Auch heute muss er wieder kurz in sein Büro. Da sein Wagen einen kleinen Defekt hat fahre ich ihn von Fürstenwerder nach Steegen. Er bittet mich mitzukommen, es dauere nicht lange, aber bereits auf der Fahrt durch den Küstenwald leuchtete bei strahlendem Sonnenschein die erblühende Natur in allen Farben. Ich vermeinte ihren leisen aber eindringlichen Lockruf wahrzunehmen. Mit leichtem Kopfschütteln lehne ich Zbyszeks Einladung ab, will lieber raus, am liebsten ans Wasser. Spontan kommt mir die Idee, von Stutthof aus entlang der Königsberger Weichsel nach Kobbelkampe (Kobyla Kepa) zu fahren und dann weiter der nördlichen Fahrrinne folgend zur Einmündung ins Frische Haff. Anschließend könnte ich am Haffufer über Hinterstutthof nach Bodenwinkel fahren. Ich sage Zbyszek er könne mich auf meinem Handy anrufen wenn er fertig sei und ich ihn abholen solle.

Links der Straße von Steegen nach Stutthof zieht sich der Küstenwald die Dünen hoch, rechts fällt die Landschaft etwas ab. Felder, Wiesen und Laubbäume bestimmen das Bild. In Stutthof biege ich rechts Richtung Fischerbabke ab und am Ortsausgang vor der Hebebrücke über die Königsberger Weichsel nach links. Ein Schild weist den Weg nach Kobyla Kepa. Der Deich versperrt den Blick auf den Fluss. Die Königsberger Weichsel. Ich muss schmunzeln. Vor einem Weilchen hatte ich eine Diskussion mit einem alten Danziger der mir nicht glauben wollte, dass es eine Königsberger und eine Elbinger Weichsel gab und gibt. Er meinte, es gebe die Weichsel und natürlich auch die Tote Weichsel, aber das wäre dann auch schon alles. Vor einigen hundert Jahren ergossen sich über diese Stromarme wesentlich größere Wassermassen ins Haff als über die bei Danzig in die Ostsee mündende Weichsel.

Der Asphaltweg entlang des Deiches ist schmal. Wenn hier ein Fahrzeug entgegen käme müssten beide ein Stück auf den Grünstreifen ausweichen. Saftige Wiesen voller Löwenzahn. Ein Meer in Gelb. Vereinzelt alte Kopfweiden. Tiefblauer Himmel. Ich fahre lediglich Schritttempo, beide Seitenfenster weit geöffnet. Kobbelkampe. Der Weg steigt an auf Deichhöhe. Kein Dorf, nur ein paar kleine Häuser. Hier ist die Königsberger Weichsel zu sehen. Ein fast ruhendes Gewässer ohne sichtbare Strömung. Hochwasser droht schon lange nicht mehr von der Stromweichsel. Gefahren können jedoch von Ost kommen, aus dem Haff, wenn schwere Stürme von Nordost Wassermassen der Ostsee in das Frische Haff drücken und den Pegel der Flussarme im ganzen Werder anschwellen lassen. Meterhohes Schilfrohr wiegt sich im warmen Südwind. Überall Weiden. Es gibt viele Imker hier. Die Bienenkästen sind mit Ziegeln beschwert. Ein Angler kommt vom Deich, schiebt sein Fahrrad durch das Gras. Ein Verkehrsschild beschränkt die Fahrgeschwindigkeit auf 40 Stundenkilometer. Wer käme auf die Idee hier schneller zu fahren? Bunt gescheckte Milchkühe auf den Wiesen. Ein Verbotsschild. Weiterfahrt nur für Anwohner. Ich fühle mich als einer, beschließe einer zu sein und fahre weiter. Der Weg ist nur mit gelochten Betonplatten belegt. Manche sind in der Mitte gebrochen, die Hälften fallen zum Fahrbahnrand ab. Hier ist nur wenig Bodenfreiheit für meinen Wagen gegeben. Und prompt rumpst es auch schon das erste Mal als der Wagenboden Bekanntschaft mit einer Bruchplatte macht. Ich fahre noch langsamer, weiche öfters ins Grüne aus. Der Deich versperrt die Sicht aufs Wasser. Irgendwo hier, am Mittelhaken, muss sich die Königsberger Weichsel in zwei Mündungsarme teilen. In die nördliche Rinne, der ich folgen werde und der südlichen Töpferfahrt. Plötzlich macht der Weg einen scharfen Linksknick. Ich bin da, ich bin an der Einmündung ins Haff. Ich stelle den Wagen ab, laufe ein paar Schritte zum Wasser. Das erste was auffällt ist der Lärm. Es müssten viel mehr Vögel zu sehen sein bei diesem von ihnen verursachten Geräuschpegel. Es ist ein Schreien zu hören, ein Krähen, manches klingt wie Wehklagen, aber auch ein sanftes Zwitschern, ein helles Zirpen, ein melodisches Werben und von weiter her machen ganze Froschkolonien durch tiefes Quaken auf sich aufmerksam. Jetzt sehe ich sie auch. Stakende Störche, Graureiher, segelnde Seeschwalben, ein langer Zug Kormorane im Formationsflug, vereinzelt sich dicht am Schilfsaum haltende Singvögel. Und Insekten. Mücken, die mich umfliegen, umtanzen, Käfer, die mich nicht beachtend vorbeiziehen, Wespen, die in der Luft stehen und plötzlich pfeilschnell verschwinden, geschäftige Bienen auf der Suche nach Nektar. Auf dem Haff ein einsames Boot, wahrscheinlich ein Fischer. Stöcke und Bojen zeigen Reusen und Stellnetze an. Und wieder zwei lange Züge Kormorane, die in Formation aufeinander zufliegen, sich kreuzen und wieder voneinander entfernen. Es mag viele Paradiese auf Erden geben. Dieses hier ist ganz bestimmt eines davon.

Der Wind hat etwas aufgefrischt und entlockt dem trockenen strohgelben Schilf eine sanftes Rauschen. Aus dem Wasser ragen erste Spitzen nachfolgenden Grüns. Eine weitere Brise lässt mich kurz frösteln. Ich nehme für heute Abschied, steige in den Wagen, fahre weiter. Vor mir plötzlich Mückenschwärme. Ganze Wolken von Mücken. Sie sehen aus wie ein einziger Organismus. Sie wabern über der Landschaft, über dem Weg, drehen ab, steigen auf, verdichten sich, fließen wieder abwärts. Myriaden schwarzer Mücken. Die Luft ist voller sich bewegender dunkler Pünktchen. Ich fahre durch die ausweichenden Massen, überblicke die Wiesen mit vereinzelt dahin schreitenden Störchen. Als ich im März hier war hat sich dort ein Seeadler erhoben. Ich schaue gespannt um mich um vielleicht erneut Adler wahrzunehmen. Aber ich sehe heute keine. Hier, an diesem kleinen unscheinbaren Abzweig in das Schilf hinein, liegt der Winterhafen der Bodenwinkler Fischer. Dort ziehen sie über die Zeit in der das Haff zugefroren ist ihre Boote an Land, bessern sie aus, streichen sie. Hinterstutthof, Bodenwinkel. Ich fahre von der Südseite in den Ort, komme am Fischrestaurant "Bar Rybny u Basi" vorbei, überlege, ob ich mir eine Aalsuppe genehmigen soll. Aber wer weiß, vielleicht wartet mein Freund Zbyszek schon. Durch den Küstenwald mache ich mich auf den Weg nach Steegen, passiere erneut Stutthof. Wie lange war ich unterwegs? Gerade mal ein bisschen mehr als eine Stunde. Eine Stunde, die mich in ein irdisches Paradies führte.