Die Kleinbahn in Fischerbabke

Dienstag, 11. Mai 2004, früher Nachmittag

Ohne vernünftige Straßenkarte ist es hier in dieser Gegend ein bisschen schwierig, sich zurecht zu finden. Wo bin ich eigentlich? Nach Glabitsch (Globica) weiss ich zwar, dass ich bald auf die Elbinger Weichsel stoßen müsste, aber ich habe leider kein Kartenmaterial dabei. Ich müsste jetzt, wenn die schmale asphaltierte Straße nicht als Sackgasse endet, entweder in Junkertroyl (Chorazowka) oder in Fischerbabke (Rybina) ankommen. Nicht weit entfernt mache ich einige Hausdächer unter hoch aufragenden Laubbäumen aus. Plötzlich laufen über die Straße Kleinbahngleise. Im nächsten Augenblick trete ich auch schon auf die Bremse, stelle den Wagen am Wegrand ab. Das muss ich mir näher ansehen. Dunkle Wolken lassen in mir die Befürchtung aufkeimen, es könne bald regnen. Soll ich meinen Schirm mitnehmen? Ich entscheide mich dagegen. Ein paar Schritte zurück und vor mir liegen sie: Überwachsene Kleinbahngleise. Offenbar ist hier schon seit Urzeiten kein Zug mehr gefahren. Richtung Osten verschwinden die Gleise in Gras und Buschwerk, das sich wie ein Tunnel über der Strecke wölbt. Auf der anderen Seite sehe ich Weichen und auch so etwas wie einen unbefestigten Bahnsteig. Ich laufe die paar Schritte auf die Weichen zu, bemerke hier ein windschiefes Schild. „Rybina“. Ich bin also in Fischerbabke. Fährt hier noch die Kleinbahn!? Ich versuche, mir die Strecke ins Gedächtnis zu rufen. Von Tiegenhof (Nowy Dwor Gdanski) kommend über Tiegenhagen (Tujce) und Tiegenort (Tujsk) nach Fischerbabke. Dort über die Elbinger Weichsel und dann nordwärts nach Steegen (Stegna). Gibt es hier in Fischerbabke noch eine andere Strecke als die nach Steegen? Nein, das muss schon die richtige Trasse sein. Ich laufe auf den Bahnschwellen und traue meinen Augen kaum. Die Gleise sind nur auf jeder zweiten, dritten Schwelle befestigt, auf den anderen liegen sie nur lose auf. Ich zweifle noch immer. Das können doch gar nicht die Gleise sein auf denen wieder die neu ins Leben gerufene Kleinbahn fährt! Vor 99 Jahren, 1905, wurde die Strecke gebaut. Eine Fahrt auf dieser Strecke muss heute ein Abenteuer sein! Aber es stimmt, das ist die Strecke nach Steegen. Ich photografiere die Gleisanlagen, gehe zum Auto zurück und beschließe, an die Elbinger Weichsel zur Drehbrücke zu fahren, über die der Bahnverkehr Tiegenhof-Steegen läuft.

Es sind nur noch ein paar Meter bis zur Hauptstraße, die diese beiden Orte verbindet. Es war häufig so, dass die Kleinbahnstrecken parallel zu Straßen gebaut wurden. Ich biege links ab, sehe bereits die alte Zugbrücke, die über die verkrautete Königsberger Weichsel führt. Auf der Wiese vor dem Dorfladen ein Telegrafenmast mit leerem Storchennest. Störche habe ich bisher noch keine gesehen, es wird auch ihnen zu kühl sein. Aber lange kann es nicht merh dauern bis sie hier sind. Zweihundert Meter weiter die große neu gebaute Zugbrücke über die Elbinger Weichsel. Mehrere Male täglich wird sie hochgeklappt für Segler, Frachter und bald auch für Passagierschiffe die im Linienverkehr nach Königsberg fahren sollen. Nach Überqueren des Flusses biege ich direkt nach dem Damm rechts ab und komme kurz darauf an die alte Pumpstation, die das bis zu 2 Meter unter Meeresspiegel liegende Land in die Elbinger Weichsel entwässert. Am Ufer des Einmündungskanals ein an Land gezogener vor sich hin verfallender morscher Kahn.

Ich stelle den Wagen ab, laufe ein Stück bis ich auf die Kleinbahngleise stoße, folge ihnen auf geschotterten Schwellen Richtung Fluss. Zur Rechten, hinter verrosteten Maschendrahtzäunen und dichtem Buschwerk, einige alte Katen, Ziegelmauerwerk, windschiefe Dächer, die Giebel mit silbergrauem Holz verkleidet. Intensiv genutzte Gärten, Salate und Gemüse sind angepflanzt. Zwischen Häuschen und Fluss ein schmaler schwarzsandiger Weg, die Spuren durch einen grünen Mittelstreifen getrennt. Der Löwenzahn zeigt erste gelbe Büten. Kahle Laubbäume an der Uferböschung erlauben weite Blicke über den Fluss.

Kurz vor Gleisende rechts ein ausrangierter Waggon, der den Brückenposten als Dienstunterkunft diente. Die Drehbrücke ist parallel zum Fluss ausgerichtet. Auf der gegenüber liegenden Seite ragt die Brücke vom Damm her 8 Meter zum Fluss. die 37 Meter lange drehbare Bühne ruht auf einem Betonpfeiler im Flussbett. Nur wenn Züge kommen, wird die Brücke geschlossen. Segelboote und Schiffe müssen dann warten bis die Brücke wieder geöffnet wird. Ich konnte das im letzten Jahr mitverfolgen und auf Film aufnehmen. Kaum glaublich, aber zwei Arbeiter reichen aus, um die viele Tonnen schwere Brücke nur per Muskelkraft zu drehen.

Diese Brücke ist ein technisches Meisterwerk, ein Denkmal. Sie wurde von den Dortmunder Stahlwerken konstruiert und gebaut. Erst 1906, als die Gleisstrecken schon längst errichtet waren, konnte sie mit Verspätung eröffnet werden.

Den Brückenkopf auf der anderen Seite kann ich von meinem Standpunkt aus nicht sehen. Pfeiler und Brücke versperren den Blick. Ich muss an eine kleine Geschichte, an einen glücklicherweise glimpflich ausgegangenen Unfall denken, der sich drüben in Fischerbabke ereignete. Auf beiden Seiten des Flusses liegt die Brückenauffahrt recht hoch. Um dort hinauf zu kommen muss eine beträchtliche Steigung bewältigt werden. Die Lokführer konnten erst auf den letzten Metern erkennen, ob die Brücke auch wirklich geschlossen ist. Im Herbst 1942 hatte sich der damalige Brückenwärter verletzt und konnte die Brücke nicht schließen. Damals näherte sich ein aus Steegen kommender langer Rübenzug der Brücke, nahm kräftig Anlauf und als der Zug oben ankam, war es zu spät zu bremsen. Die Lok und ein Rübenwaggon rissen ab und stürzten in den Fluss. Glücklicherweise konnte sich die Lokbesatzung retten.

Ich überlege mir, ob ich nicht auf dem schmalen Verbindungsstück zum Pfeiler balancieren soll. Dort hätte ich eine hervorragende Aussicht und könnte mir auch die Technik näher ansehen. Aber ich bin unschlüssig und ganz ungefährlich ist es nun auch nicht. Ich drehe um, gehe mit kurzen Schritten von Schwelle zu Schwelle. Hunde in den Gärten verbellen mich. Eine alte Frau, die im Gemüsebeet Unkraut rupft, schaut mich flüchtig an. Langgezogenes Quaken tönt von einigen Tümpeln am Fuß des Dammes.

Mein Auto ist noch immer da. Hier passiert auch nichts. Auf einem angrenzenden Grundstück ein Gatter mit drei Pferde und Fohlen. Sie stehen wie angewurzelt, scheinen mich zu beobachten, vielleicht schlafen sie auch. Obstbäume stehen in weißrosa Blüte. Mit geschwollenem Kamm jagt ein schwarzer Hahn einem flüchtenden Huhn über den Sandweg nach. Einen alten Mann, zahnlos, in der einen Hand einen Stock, in der anderen eine Plastiktüte mit leeren Bierflaschen, zieht es zum Dorfladen. Plötzlich ein lautes Krähen eines anderen Hahnes. Es ist für mich ein Signal. Ein Signal, aufzubrechen. Aber auch ein Ruf, wiederzukommen.