Liebe Freundinnen und Freunde,
die Familie meiner Mutter stammt aus Stutthof und – wenn man tiefer gräbt – aus vielen Dörfern an Haff, Nehrung und dem Werder. Für Freunde und Familienmitglieder schreibe ich zur Zeit die Familiengeschichte auf, wobei ein starker Akzent auf den letzten hundert Jahren liegen soll.
Mir war es wichtig, auch das politische Milieu knapp zu skizzieren. Von daher war ich stark an den lokalen Wahlergebnissen zum Volkstag interessiert, da sich in Wahlergebnissen „viel“ widerspiegelt.
Ich möchte diese Erfahrungen knapp teilen. Zunächst war es für mich nicht ganz einfach, die lokalen Wahlergebnisse in den einzelnen Orten überhaupt zu ermitteln. Die „Beiträge zur Danziger Statistik“ verzeichnen nur die Ergebnisse der Stadt und der einzelnen Kreise. Ich bin dann im SPD-Blatt „Danziger Volksstimme. Organ für die werktätige Bevölkerung der Freien Stadt Danzig“ fündig geworden.
Die Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung hat in den 1970er Jahren in Danzig im Austausch einen Mikrofilm erworben und vor geraumer Zeit die digitalisierten Images ins Netz gestellt. (http://library.fes.de/inhalt/digital...olksstimme.htm) Das Projekt ist hier im Forum ja auch schon wohlwollend erwähnt worden.
Eine Lücke klafft bei der elektronischen Edition leider für das Jahr 1933, so dass die Ergebnisse für die Volkstagswahl von Mai 1933 nicht zu rekonstruieren sind. Das liegt daran, dass Originale in Danzig sich nicht erhalten haben. Diese Lücke kann man durch Bestellung eines Mikrofilms aus der Bibliothek des Instituts für Auslandsbeziehungen Stuttgart auf dem Wege der Fernleihe schließen. Die Stuttgarter Bibliothek hat diesen Mikrofilm auf der Basis eines erhaltenen Originals in der ehemaligen Deutschen Bücherei, Leipzig erstellen lassen. Das Ausleihverfahren ist umständlich; aber was tut man nicht alles für die Erforschung der eigenen Familie.
Für die Wahl zum 1. Volkstag 1920 liegen in der „Volksstimme“ leider keine lokalen Ergebnisse vor. Die weiteren Ergebnisse waren für mich doch einigermaßen überraschend. Ich hatte einen deutschnationalen Mainstream erwartet, der spätestens 1930 in ein überwältigendes pro NSDAP-Votum überging.
Ich liste mal für die Wahlen 1923, 1927, 1930 und 1933 die Stutthöfer Wahlergebnisse auf (Angaben in Prozent). In Klammern sind die Wahlergebnisse der gesamten Freien Stadt dokumentiert. Aufgeführt werden die stärksten sechs Parteien nach ihrem Stimmenanteil.
Volkstagswahl in Stutthof 1923
SPD 38,2% (25,00%)
Deutschnationale Volkspartei 37,2 % (27,50%)
Vereinigung der Fischer 5,8% (0,83%)
Freie Vereinigung der Beamten, Angestellten und Arbeiter 4,1% (2,50%)
Deutsche Danziger Volkspartei 2,5% (5,00%)
KPD 2,3% (9,17%)
Abgegebene Stimmen: 1099
Volkstagswahl in Stutthof 1927
SPD 28,8% (35,00)
KPD 20,9% (6,67 %)
Deutschnationale Volkspartei 20,9% (20,83%)
Deutsche Danziger Volkspartei 13% (4,17%)
Wirtschaftspartei 3,3% (0,83%)
Bürgerliche Arbeitsgemeinschaft 2,3% (2,5%)
Abgegebene Stimmen: 1066
Volkstagswahl in Stutthof 1930
KPD 33,5% (9,72%)
SPD 15,5% (26,39%)
Deutsche Volksgemeinschaft Landliste 15,9% (16,67%)
NSDAP 13,7% (16,67%)
Deutschnationale Volkspartei 8,5% (13,89%)
Wirtschaftspartei 7,2% (2,78%)
Abgegebene Stimmen: 1034
Volkstagswahl Stutthof Mai 1933
NSDAP 74,7 % (52,78%)
KPD 13,8 % (6,80%)
SPD 7,6% (18,06%)
Deutschnationaler Block Schwarz-Weiß-Rot 1,4 % (5,56%)
Jungdeutsche Bewegung 1,3% (0,79%)
Zentrum 1,28 % (14,63%)
Abgegebene Stimmen: 1324.
Wenn man nur auf das Wahlergebnis von 1930 schaut, könnte man Stutthof als „linkes Nest“ bezeichnen, mit der KPD als dominierender Kraft.
Die Stimmabgabe für die KPD ist für mich die größte Überraschung. Weder habe ich davon Substantielles in der Heimatliteratur gelesen, noch aus den Familienerzählungen Präzises erfahren. Während meiner beruflichen Zeit habe ich mich semiprofessionell mit Wahlergebnissen der Arbeiterparteien in der Zwischenkriegszeit beschäftigt. Mir ist kein Fall bekannt, wo zwischen 1923 und 1927 die KPD als ehemalige Kleinpartei die SPD regelrecht übertrumpft hat. Die Wahlforschung macht für dieses ungewöhnliche Wahlverhalten auf lokaler Ebene meist charismatische Einzelpersönlichkeiten oder Familien „verantwortlich“, die die Entscheidung eines ganzen Ortes beeinflussten. Heute würde man wohl von Influencern sprechen.
Noch 1930 hatten KPD und DPD in Stutthof nahezu die Hälfte der Wählerinnen und Wähler hinter sich. Ich will das Ergebnis der KPD nicht glorifizieren; aber in der seriösen Wahlforschung gilt dies als Indiz für eine grundständige antifaschistische Haltung.
Umso heftiger das Wahlergebnis von Mai 1933. Es spiegelt aus meiner Sicht die desaströsen Wahlentscheidungen, die wir auch aus dem Reich kennen. Die NSDAP gewinnt von den Nichtwählern, die bürgerlichen Parteien und Wählervereinigungen werden pulverisiert. Im Gegensatz zu katholischen Regionen in West- und Süddeutschland stellt die starke kirchliche Bindung im protestantischen Werder keinen Damm gegen die NSDAP dar. Der Verlust der Arbeiterparteien ist in Stutthof allerdings überproportional dramatisch.
Nun wird ja in der Literatur das Danziger Wahlverhalten im Mai 1933 klug kommentiert. Ich lasse deshalb abschließend nur die authentische Stimme des SPD-Blattes unter der Überschrift „Einer Nazi-Herrschaft entgegen“ zu Wort kommen: „Weite, selbst antifaschistische Kreise, sind von der Propaganda der Nationalsozialisten, jener Umwertung aller Werte mit all ihren Verschleierungen, zum Opfer gefallen. Und groß ist die Zahl derer, die jener Parole ‚Zurück ins Reich‘, die ihnen täglich und stündlich als angebliche Rettung um den Kopf gehämmert wurde, zum Opfer gefallen. Gewiß, das Erwachen wird bald folgen…“ (Danziger Volksstimme, 29. Mai 1933).
Mich würde interessieren: Kann jemand aus dem Forum etwas zum ungewöhnlichen und abweichenden Stutthöfer Wahlverhalten bis in die frühen 1930er Jahre sagen?
Ein wenig blitzt von der linken Vergangenheit in dem Artikel von Marcin Owsińki: Die Deutschen in Stutthof und Sztutowo auf. Marcin Owsińki stützt sich bei seiner Beschreibung der ersten Nachkriegstage auf das überlieferte Tagebuch von Irmgard Stoltenberg, geb. Krause, die diese wichtige Quelle dem Museum als Kopie überlassen hatte. Sie überliefert ein ganz bemerkenswertes Detail, das auf die starke linke Tradition des Ortes hinweist: „Rudolf B[ehrendt] ging den Russen entgegen und stellte sich ihnen als Kommunist vor. Die Russen rissen ihm seine Papiere aus der Hand, warfen sie auf den Boden und sagten: ‚Du bist kein Kommunist, du bist ein Deutscher‘“.
(Wenn ich es richtig sehe, handelte es sich um den Maurer Rudolf Behrendt aus der Schulstraße, der später im Kreis Wernigerode in der DDR eine neue Heimat fand.)
Ein wenig reflektiert das Wahlverhalten der Stutthöfer Bevölkerung auch die eigene – in Bruchstücken – überlieferte Familiengeschichte. Meine Großmutter Emma Zimmermann erzählte, sie und ihr Mann Otto Zimmermann hätten in den 1920er Jahren SPD gewählt, weil sie „gegen die Reichen“ waren. Otto Zimmermann (1899-1944) – so meine Mutter Edith Zimmermann – sei später Nazi-Anhänger geworden, wobei der „Heim ins Reich-Mythos“ dominiert habe. Aus den Entnazifizierungsunterlagen meiner Leute weiß ich: Meine Oma trat 1935 der NS-Frauenschaft bei. Meine Mutter – das war schon ein Schlag für mich – trat 1943 als Zwanzigjährige der NSDAP bei. Als Briefträgerin wusste sie übrigens, was im Stutthöfer KZ geschah.
Aber es gab auch andere Biographien: Der später stark gewerkschaftlich orientierte Bruder meiner Großmutter Emil Zimmermann war stolz darauf, so lange SPD gewählt zu haben, so lange es politisch möglich war. Andere Verwandte – wie der Fischhändler Otto Becker (1882-1964) hätten – so meine Mutter – bei allen heftigen Diskussionen in der Danziger Straße bis 1945 darauf insistiert, ihn mache niemand zum Nazi.
Vielleicht ist der Beitrag etwas zu lang geraten. Mir war es wichtig zu teilen.
Rüdiger