Hallo miteinander,
aus dem Danziger Hauskalender von 1930:
Aus dem alten Heubude
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Von Gertrud Ruß-Hippel (Neubabelsberg)
Ich habe meine Kinderschuhe beim Aufräumen in der alten Truhe gefunden. Es sind derbe schwarze Stiefelchen, die meine Mutter aufgehoben hatte, um sie mir mitzugeben, als ich in die Fremde zog. »Nimm sie mit« sagte sie, »und wenn sie Dir später in die Hände fallen, dann wirst Du sehen, wie gut sie es verstehen, Dir Dein Jugendland wieder lebendig zu machen, und es wird Dir sein, als liefest du in Kinderschuhen durch den Dünensand.«
Und nun halte ich meine alten Kinderschuhe in der Hand! Sechs oder sieben Jahre mag ich alt gewesen sein, als ich sie an den Füßen hatte. Mein Gott, wie lange das her ist! Aber meine Mutter hat recht gehabt. Ich schaue sie an, und vierzig Jahre meines Lebens versinken. Mir ist, als hätte ich die Stiefelchen an den Füßen und liefe durch den weichen, tiefen Sand. Alles, was versunken, wird wieder lebendig, und die Toten stehen auf. Ich bin das kleine Mädchen des Heubuder Försters. Auf dem Hügel am Waldesrande liegt mein Vaterhaus, und ich sehe über den grünen Wipfeln den Wanderfalken seiner Beute nachziehen.
»Lauf ins Dorf und bring den Brief zur Post«, höre ich die Stimme meines Vaters sprechen. Ich halte einen großen Brief in den Händen, und die kleinen Füße in den schwarzen Stiefelchen eilen flink den Weg ins Dorf hinab. Das erste Haus gehört »Stahls«. Es ist ein langes Mietshaus, halb mit Ziegeln, halb mit Stroh gedeckt. Die Fenster sind niedrig, die Türen in der Mitte geteilt. Neben jeder Türe ist eine hölzerne Bank, auf der die Bewohner am Abend sitzen, wenn ihr Tagewerk hinter ihnen liegt. Hier rauchen die Männer ihre Pfeife, und die Frauen »knitten« dicke Wollstrümpfe für den kalten Winter. Ein schmaler Weg führt an dem Hause vorüber, und der alte Glockenturm winkt mir vom nahen Kirchhof zu. •
Er ist mir immer ein lieber Freund gewesen; denn kam ich mit müden Füßen von dem weiten Schulwege heim, und sah ich seinen spitzen Hut grüßend über die Bäume ragen, dann wußte ich, jetzt bist Du gleich zu Hause. Eckig und massig steht der Turm da als ein Wesen, das die Zeit zu überwinden weiß. Seine Glocken nehmen an dem Leben des Dorfes teil. Sie laden zur Kirche, sie melden den Tod, sie rufen das
Feuer aus, und mir klingt noch heute der ernste Klang in den Ohren, mit dem sie am ersten August 1914 den großen Krieg verkündeten. Viel hat der alte Turm erlebt. Als meine Kinderfüße an ihm vorbeiliefen, pflegte Meister Brech die Glocken zu läuten. Er war seinem Berufe nach Seilermeister, und sein Haus lag neben dem Kirchhof. Das Strohdach reichte tief hinab. Hinter dem Hause war ein sandiger Platz, auf dem die Dorfkinder spielten; heute steht dort die kleine Kirche. Vor dem Hause aber
hatte Meister Brech seine Seile ausgespannt. Das Rädchen schnurrte den ganzen Tag, und der fleißige Mann ging rückwärts, immer rückwärts, das mit Werg umwickelte Seil in den Händen. So ist er meine Kinderzeit hindurch hin- und hergewandert, hat die Glocken geläutet und den Heubudern das Ruhebett gegraben, bis auch ihn seine Glocken zur Ruhe riefen. Ich ging gerne an seinem Hause vorbei, denn er hatte immer ein freundliches Wort übrig und machte gern einen Spaß mit uns Kindern.
Neben dem »Waldhäuschen« auf der anderen Straßenseite lag noch ein kleines Strohdachhaus. Hier wohnten die alten »Spechts«. Sie stehen in meiner Erinnerung da wie der Urtyp von Großvater und Großmutter. Großmutter im schlichten Kleid mit kleiner schwarzer Seidenschürze, das Spitzenhäubchen auf dem weißen Haar. Großvater im Schlafrock und Käppchen, die lange Pfeife in der Hand. Das Häuschen lag sauber und freundlich mitten in einer grünen Wiese.
Die Straße führt still und sonnig zwischen Wiesen und Häusern weiter. Auf den Wiesen weiden Kühe, vor den Häusern spielen flachshaarige Kinder. An der letzten Straßenbiegung steht ein kleines Haus, das für mich eine große Anziehungskraft besitzt. Ich stehe am Zaun still und schaue hinüber. Aus der Haustüre kommt eine kleine alte Frau. Sie hat einen Korb in der Hand und geht in den halbverfallenen Stall, der sich an das strohgedeckte Häuschen lehnt. Zwei Katzen begleiten sie. Das
ist ,,Adlers Minchen«, ein uraltes Jüngferlein. In ihrem Stall haben wohl in früheren Jahren ein Paar Kühe gestanden; denn es ist ein Heuboden darüber. Jetzt ist sie so alt, daß sie nichts mehr besorgen kann. Nur Kartoffeln pflegt sie noch auf dem Ackerland hinter dem Hause zu pflanzen. Immer trägt sie einen kurzen Warprock, und eine blaue Schürze, das gescheitelte Haar guckt unter einer Haube hervor, und stets ist sie von ihren Katzen begleitet. Einmal habe ich sie auch »fein« gesehen. Da bin ich, so schnell die schwarzbestiefelten Füßchen konnten, nach Hause gelaufen und habe aufgeregt gerufen: ,,Mutter, Mutter, Adlers Minchen fuhr zur Stadt! Ohne Katzen! Und fein sah sie aus! Eine riesengroße, bunt gestickte Tasche trug sie und einen roten Regenschirm mit goldener Krücke!" Was mochte sie wohl noch für alkmodische Schätze in ihrem kleinen Hause haben!
Das Häuschen ist längst von seinem Platze fort. Nur der alte Kastanienbaum, der es beschattete, steht noch da, und seine großen Fächerblätter rauschen und flüstern, wenn ich vorübergehe: ,,Weißt du noch, wie es damals war, als das kleine Haus hier stand, in dem Adlers Minchen mit ihren Katzen wohnte?«
Es ist ein sommerblauer Augusttag. Ich sitze bei Luchts vor der Türe und halte eine große Schüssel auf dem Schoß; denn ich soll Flundern holen. Man erwartet die Fischer von der See zurück. Sie pflegen den Weg am Kirchhof entlang zu kommen. Auf ihren Schultern liegt die hölzerne Pede, an den Ketten hängen zu beiden Seiten die gefüllten Eimer herab. Sie sind mit nassem Segeltuch zugedeckt, und man kann schon am Gang der Fischer sehen, wie groß ihr Fang war. Sie sind barfuß, Stiefel und Lischke haben sie umgehängt. So gehen sie mit langsam wiegenden Schritten die Dorfstraße hinunter.
Die Luchtsche steht am Zaun und sieht ihnen entgegen. Ihr Mann ist nicht dabei. »Is Lucht all an Land?« ruft sie den Fischern zu. »He kömmt.« tönt es zurück. Sie kommt zu mir und stellt sich vor mich hin: »Wart man noch ein bißchen, Lucht kommt gleich.« Ich schau in ein hartes Gesicht, in das Sorgen und Arbeit tiefe Furchen gegraben haben. Dennoch haben die Augen einen hellen Glanz, den man bei vielen Fischerfrauen finden kann. Ich habe immer viel Achtung vor dieser Frau gehabt, die das Leben nimmt, wie es ist, und aus dem bescheidenen Anteil, der ihr geworden, das beste herauszufinden weiß. Die kleine Wohnung ist einfach und sauber wie in allen Fischerhäusern. Ich erinnere mich nur noch an das Himmelbett in der Stubenecke, an den getrockneten Knurrhahn, der vom Balken herunterhing und den Wind anzeigen sollte, und an den Wandspruch:
Nord und Süd
de Welt is wid.
Ost und West
to huus is best.
Im Garten stehen Sommerblumen und Stockrosen am Zaun. Ein Beet vor dem Fenster ist voller grüner Riechblätter. Ich sitze gern auf der kleinen Bank neben der Haustüre. Meinetwegen braucht Lucht noch lange nicht zu kommen. Aus dem offenen Herd in der Küche steht das Mittagessen. Sie kochen Fischsuppe und Kartoffeln. Wie gut das riecht.
Endlich kommt der Erwartete. Er schwankt etwas bedenklich zur Pforte herein, und die Luchtsche weiß schon, warum er so spät kommt. Ich weiß es auch. Der Machandel oben an der Strandhalle hat ihn festgehalten. Sie schilt auf ihn ein, aber das stört seine Ruhe nicht. »Laß man, Mutter, ich hab bloß nen kleinen Schnaps getrunken.« Sie hat ihm die Eimer abgenommen und sammelt mir Flundern in die Schüssel ein. »Ne,« sagt sie zu mir, »daß sie immer saufen müssen. Der halbe Verdienst ist wieder weg.« Und nach einer Weile fährt sie wie entschuldigend fort:
»Sie brauchen ja Schnaps auf der See, seinen Schnaps muß Lucht haben, aber so zu sausen braucht er nicht.«
Ich gehe mit meiner Schüssel unter dem Arm langsam durch den Sand nach Hause zurück. Ich mache mir viel Gedanken über Lucht und die See, die Fischer und den Machandel. Lucht ist mein Freund, und er ist ein prächtiger Mensch, das weiß jeder, der ihn gekannt hat. Aber daß er soviel trinken muß, wo Mutter Lucht es doch nicht leiden kann, das will mir nicht gefallen .Und dann sehe ich ihn in der Strandhalle unter den Fischern sitzen. Sie sind von der See zurückgekommen, und ein Herr aus der Stadt sitzt unter ihnen. Sicherlich will er sich Geschichten erzählen lassen, denn sie haben allerlei gesehen, weil sie in ihrer Jugend zur See gefahren sind. Gewöhnlich reden sie nicht viel, aber wenn der Schnaps sie munter macht, kann man allerlei erfahren. Karl Lucht steht vor Eifer auf, »Ja, der Herr wird es mir nicht glauben wollen, und ich sehe auch nicht so aus, aber ich habe wirklich einem französischen Admiral den Kopf abgeschlagen.« Die Fischer schmunzeln in ihre Gläser hinein. »Wo ist denn das gewesen?« fragt der Herr. »Das kann ich dem Herrn ganz genau sagen, das war Anno siebzig in der Schlacht bei Manila.« Er sieht triumphierend um sich. »Ja, das waren wir von der Marine. Wie die Katzen sind wir an Bord geklettert. Alle Franzosen haben wir totgeschlagen, und das Blut stand so hoch aus Deck.« Er zeigt auf seine halbe Wade. Dann aber setzt er sich, rührt mit dem Knüppel den Zucker im Glase um und trinkt bedächtig. Ich habe diese Geschichte oft gehört, und ich wußte, daß Lucht sie nur erzählte, wenn er viel getrunken hatte. Dennoch habe ich sie ihm immer geglaubt und eine große Achtung vor seiner Tapferkeit gehabt.
Und dann sehe ich mich auf der kleinen Brücke am Heidsee sitzen, die zu dem Spechtschen Gasthaus führt. Ich baumele mit den Beinen. Es ist Sonntag. Der See liegt still und verträumt in seinem Rahmen von grünen Erlen und dunklen Kiefern. Von Zeit zu Zeit schnellt ein silbernes Fischlein in die Höhe und fällt klatschend aus den Wasserspiegel zurück. Durch den Garten des Gasthauses kommen viele Sonntagsgäste aus der Stadt. Sie wollen an den Strand gehen und müssen an mir vorüber. Hinter der Brücke beginnt der Wald, ein breiter Weg führt am See entlang zur Düne hin.
»Madamken, en poor scheene Flüngerkes?« tönt es herüber. Eine braune Hand streckt sich den Vorübergehenden entgegen und reicht ihnen fettglänzende, duftende Räucherflundern hin. Am Wege sitzen in langer Reihe die Heubuder Flunderfrauen: Frau Mielke und Frau Brehmer, Frau Kneis und Frau Wiesjahn. Heubude ist weithin wegen seiner herrlichen Speckflundern berühmt. Eine muntere Gesellschaft ist hier beisammen. Wochentags kann man sie auf dem Fischmarkt in Danzig sehen, aber heute sitzen sie am Heidsee, um ihre Ware zu verkaufen. Sie sitzen auf kleinen Bänken, die sie »Rutschken« nennen; die hölzernen Eimer mit den Flundern stehen vor ihnen. Sie bieten Flundern und Aale an, auch geräucherten Lachs und Stör kann man bei ihnen kaufen. Es gibt viele Räuchereien in Heubude, und ihre Ware ist goldfrisch, wie sie versichern. So schweigsam wie die Fischer sind, so gesprächig sind ihre Frauen. Sie haben, weiß Gott, ein gesegnetes Mundwerk und eine bewundernswerte Schlagfertigkeit. Es tut nicht gut, sich mit ihnen in einen Streit einzulassen. Ich kenne sie genau, und wer morgens mit den Fischdampfern zur Schule nach Danzig gefahren ist, wird mir bestätigen, daß er nie wieder solch einen Lärm und solch einen unverwüstlichen Humor gefunden hat, wie auf diesen Fahrten.
»Nen scheenen Spickaal, frische Räucherflundern?« Vor der Mielkeschen steht ein aufgeregter Herr und gibt ihr eine lange Rolle in Zeitungspapier gewickelt zurück. »Beste Frau, was haben sie mir denn da verkauft? Das ist doch eigentlich unerhört.« Frau Mielke wickelt das Paket aus. »Das ist ein Aal, junger Mann.«
»Ja, ein Aaal! Und das sagen Sie mir ins Gesicht? Das ist kein Aal. Einfach unglaublich ist es! Das ist eine geräucherte Kreuzotter.«
»Mei Gommche,« schreit sie auf, ,,heb ick mi versiehrt! Eine Kreuzotter? Das ist ein Aal!«
Die Vorübergehenden stehen still, die Fischfrauen stehen von ihren Rutschkes auf und stellen sich um die Streitenden. »Was seggt he? Ne Schlang? Mei, dat is doch een Ool!« Und nun schreien sie alle durcheinander. »Hebbt ju all so wat hört, det wi de Schlangen rökern?«
Aber der Herr bleibt dabei, man hätte ihm eine Kreuzotter verkauft. Es gibt deren viele im Heubuder Walde. Die sachverständigen Frauen suchen allen Umstehenden klar zu machen, daß das geräucherte Wesen ein Aal sei. Schließlich fragt eine der Frauen den Herrn, wer ihm denn das Märchen von der Kreuzotter erzählt hätte.
»Das habe ich von einem Manne, der sich ausgezeichnet auf die Naturgeschichte versteht, das hat mir der Heubuder Förster gesagt.«
Da brechen alle Frauen in schallendes Gelächter aus. Ihr Zorn ist verflogen, sie halten sich die Seiten und gehen auf ihre Plätze zurück. Sie können sich gar nicht beruhigen.
Mutter Mielke schüttelt den Kopf und tauscht die vermeintliche Kreuzotter gegen Flundern ein. Über ihr altes, ehrliches Gesicht zieht es wie heller Sonnenschein. Es kommt ihr doch zu lustig vor, daß sie Kreuzottern räuchern soll.
Das Leben in dem alten Heubude war einfach und hart, und zur Härte und Einfachheit erzog es seine Bewohner. Aber wie der Sonnenschein über die Wellen der See springt, Und sie hell aufblitzen läßt, so blitzte auch zuweilen der Frohsinn in den blauen Augen seiner Bewohner auf.
Es ist eine Herzensfreude, sie in der Erinnerung wieder auferstehen zu lassen, und wie froh bin ich, daß ich meine Kinderschuhe in der alten Truhe fand, mit denen ich wieder durch die sandigen Dorfstraßen laufen konnte. Wie trieb mir der frische Seewind das Haar ins Gesicht!
Viele Grüße
Peter