Eine Fahrt nach Schiewenhorst im Herbst 1996
Fähranlegestelle Schiewenhorst (Swibno) - Treffpunkt für alle, die über die Weichsel nach Nickelswalde (Mikoszewo) wollen. Warten ist angesagt. Auf dem Strom ein kleiner Schlepper, der laut stampfend die Fähre am stählernen Führungsseil zum anderen Ufer schiebt. Genügend Zeit bis die Fähre zurückkommt, genügend Zeit um ein paar Schritte zu gehen, die Augen schweifen zu lassen.
Direkt unten am Weichselufer - der Blick flußabwärts macht neugierig, lädt zu einem kleinen Spaziergang ein. Hinter hohem Buschwerk, ganz versteckt, zwei ausgemusterte Eisenbahnwaggons.Sie sind bewohnt. Davor eine grüne Holzbank. Unter der abblätternden Farbe tritt das blanke Holz hervor. Auf der Bank ein alter Mann, der bedächtig sein Pfeifchen raucht, vor sich hinschweigt.
Tuckernd kämpft ein mit drei Mann besetztes Fischerboot gegen die starke Weichselströmung an. Es fährt zur Strommitte, Bojen aussetzend, an denen feinmaschiges Netz zur See treibt. Der Blick geht zum Weichselufer, über Weidenrutenbündel, die zusammengeflochten im Wasser liegen. Werden damit heute noch Ufer befestigt? Oder wässern hier Korbmacher ihr Material?
Eine frische Brise und die herbstliche Nachmittagssonne haben gegen die leisen Nebelschwaden gewonnen, die Strom und Deiche gefangen hielten. Der nahe Nehrungswald leuchtet in unwirklich kräftigen Farben. Das Wasser spiegelt warm die sonnenüberflutete Landschaft jenseits der Weichsel.
An der schlichten, aber idyllisch gelegenen Wohnstätte des alten Mannes vorbei führt der Weg zum Hafen. Links und rechts, teils von welkendem Gras überwachsen, vergehen Netze und Reusen. Ein gesunkener Kutter, dessen zerfallende Aufbauten halb aus dem Wasser ragen, erinnert an vergangene Zeiten. Über das Hafenbecken hinweg, von der nördlichen Seite her, hallen Maschinen der Fischfabrik. Gegenüber wartet eine Schulklasse lärmend auf ihren Bus.
Ein roter Backsteinbau steht verlassen zwischen dichten Sträuchern und unbelaubten Bäumen. Der schiefe Schornstein ragt einsam in den herbstlichen Himmel. Auf der Suche nach Beute ziehen Möwen mit raschem Flügelschlag unregelmäßige Kreise. Hin und wieder stürzt sich eine von ihnen ins stille Wasser um gleich darauf mit zappelndem Fang im Schnabel den Flug fortzusetzen.
Die drei Fischer sind weit draußen auf der Weichsel, ihr Boot folgt den Bojen. Holen sie das Netz schon wieder ein? Oder lassen sie noch mehr Garn nach? Ich wäre gerne dabei.
In der Ferne Hundegebell, lauter werdend, plötzlich verstummend. Ein Vogelzug wirft Schatten, fliegt mit davonjagenden Wolken um die Wette, streift den silbernen Horizont über dem Meer, entschwindet. Ruhe breitet sich aus, nimmt Besitz. Zwei Angler in olivgrünen Wathosen streifen durch das Dickicht, unterhalten sich leise. Ein Kescher verfängt sich im Gestrüpp, wird vorsichtig freigemacht. Stille umfängt mich wieder, verleitet zum Träumen. Gedankenverloren, trotzdem mit offenen Sinnen, nehme ich Natur auf. Höre, sehe, rieche, fühle, atme tief durch, hebe ab. Bin für wenige Augenblicke weit weg, bei den Vögeln, über dem Meer.
Ali kommt, entreißt mich meinen Träumen, bringt mich zurück in die nüchterne Wirklichkeit. "Die Leute sind arm hier, Wolfgang. Es ist eine herrliche Landschaft, aber es gibt keine Arbeit. Komm, die Fähre ist da, wir wollen weiter."
Der Rückweg führt wieder am alten Mann vorbei. Er zieht noch immer an seinem Pfeifchen, nickt uns zu. Vom Fischerboot und den Bojen ist nichts mehr zu sehen.