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Thema: Augustgewitter. Auf dem Domnik

  1. #1
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    Standard Augustgewitter. Auf dem Domnik

    Domnik (Rummel) in Danzig vor 1939
    Jede Stadt hat ihren Jahrmarkt, nur die Namen sind verschieden, In
    Hamburg nennt man ihn ‘Dom’ in Danzig ‘Domnik’ oder im Volksmund
    einfach ‘Rummel’.
    Der Hamburger Ausdruck ‘Dom’ und der Danziger Name ‘Domnik’
    haben nur indirekt etwas miteinander zu tun.
    Das hängt mit der Geschichte der Städte zusammen. Der Danziger Jahrmarkt
    wurde am 5. August 1260 zum ersten Mal als Stadtfest durchgeführt
    und zwar aus religiösem Grund. Anlaß war ein Sünden-Ablaß, den
    Papst Alexander der Vierte bewilligt hatte. Dieser Ablaß durfte von den
    Dominikanermönchen vermarktet werden. Zu diesem Ereignis kamen
    Händler, Handwerker und Gaukler nach Danzig, um gleichzeitig ihren
    Reibach zu machen. Dieser Ablaßtag wurde der Beginn der Danziger
    Handelsmesse mit Volksbelustigung.

    Gerhard Jeske ©
    Domnik im Augustgewitter in Danzig.
    Kaum waren die drei Jungens aus der Straßenbahn gesprungen, der Lor, wie sie in Danzig genannt wurde, verdrehten sie die Köpfe und suchten ihren Vater. Der war im Gedränge eingekeilt, schubste sich frei und rief den Jungens zu: „Lauft über die Straße und wartet vor der Laterne!“ Schon hier begann das Gewühl. Etliche Besucher verließen den Rummelplatz und wanderten ab nach Hause, und andere tigerten erst hin. In diesem Kommen und Gehen, Reden und Rufen verwoben sich die unterschiedlichsten Geräusche und Klänge. Musikfetzen schallten herüber, das Poltern von Karussells, Gebimmel, Juchzer und schrille Schreie heizten so richtig die Stimmung auf. Und dann dieser Dunst in der heißen Augustluft. Tausende Füße scharrten über den sandigen Grund, wirbelten feinen Staub auf, und wer hier mit schwarzen Lackschuhen flanierte, hatte verspielt, die waren im nu grau geworden. Der Staub und die warme Luft sorgten sehr bald für eine trockene Kehle. Durch dieses Gewühl drängte sich Karl Jeske mit seinen drei Söhnen bis zum Kettenkarussell. Sicher, es gab hier andere aufregende Attraktionen, zum Beispiel die Achterbahn, aber weiß der Kuckuck, dieser große Pilz, von dem die Ketten mit den einfachen Sitzen herunterhingen, sich im Kreise drehten, in die Diagonale schwebten und oft verquer schleuderten, dieses alte Vergnügen fand immer noch sein Publikum.
    Der verlorene Mädchenschuh
    Die beiden Ältesten enterten, jeder für sich natürlich, einen Sitz zwischen den Ketten, und kaum hatten sie den Sicherheitsgürtel angelegt, schrillte die Klingel, und das Karussell begann zu kreisen. Über die Köpfe der Menschen hinweg drehte sich der Kettenkranz schneller und schneller, blanke Beine wippten aufgeregt hin und her. „Vorsicht, Kopf weg!“ Ein junger Mann sprang hoch und fing einen Schuh auf. Der gehörte an den nackten Fuß des Mädchen, das unter dem blauen Himmel in der Kettenschaukel saß und lebhaft herunterwinkte.Bei der nächsten Umdrehung sah der Kavalier sie wieder. Er hielt den Schuh hoch und rief: „Ich habe ihn!“ Dann wühlte er sich durch die Menge zum Abgang des Karussells vor. „Herrje!“ schimpfte ein Bochert. „Der glaubt ja, er hätte gleich das ganze Mädchen in der Hand.“
    Lieber noch ein Eis!
    Von der Achterbahn dröhnte laute Musik herüber, kreischend sausten die Loren ins Tal hinunter. Durch die Wucht der Auffahrt drückte der Druck die Passagiere gegen die Rückenlehnen und den Magen zum Hals hoch. Erschreckte Schreie gellten über die Gaffer hinweg. Die alte Jahrmarktorgel leierte preußische Märsche ab, und das Lachen, Rufen, und Jauchzen der Kinder mischte sich über den Domnik zum großen Potpourri. „Kommen sie herbei, kommen sie heran, hier werden sie beschubst, wie überall und gleich nebenan!“ schrie ein Luntrus die Menge an. In der Losbude ratterte das Ritzel übers Glücksrad. Die Dreizehn hatte gewonnen. Ein Losverkäufer hob einen großen braunen Teddybär hoch, gleichzeitig schrie er einem älteren Herren zu: „Der ist für Sie, Sie haben gewonnen! Ihr Herzenswunsch ist endlich in Erfüllung gegangen.“ Gelächter flatterte auf. Ziemlich verlegen nahm der alte Herr den Bären entgegen.
    Schwitzend steuerten die Jeskes auf ein großes Zelt zu. Dort im Schatten der Leinwand stand ein Eiskarren. ‘Reis, Speise-Eis’ war auf einem Transparent zu lesen. „Wollt ihr ein Eis lecken?“ fragte Karl Jeske seine Jungens, und ohne eine Antwort abzuwarten langte er über wuschelige Köpfe kleiner Rangen drei Dittchen hin (das sind 30 Pfennige). „Dreimal Zitrone“, bestimmte er. Mit einem Holzspachtel schmierte der Eisverkäufer das Eis in die Waffeltüten zu Pyramiden hoch. Der ItalienerToscani hatte den Danzigern vorgemacht, wie erfrischend Speiseeis sein kann. Ohne Sahne, nur aus Quellwasser geeist, kühlte es die Zunge und zerfloß angenehm frisch im Mund.
    Schnaps gegen Hitze?
    Inzwischen war Karl Jeske ins Zelt eingetreten. Vor dem Biertresen bestellte er ein kleines Helles und einen Machandel, den beliebten Wacholderschnaps. Bei dieser Hitze war es riskant, einen hinter die Binde zu gießen. Willi Kohn, der hatte das mal so ausgedrückt: „Im Sommer kannst du Geld sparen. Durch die Hitze wirkt der Fusel besonders schnell. Der steigt furts in den Kopf, zieht in die Füße, und plötzlich willst du auf dem Kopf stehen und mit den Füßen denken, und du verwechselst oben und unten, Himmel und Erde, dann torkelst du, schwankst von links nach rechts wie ein lecker Kutter und meinst zu schweben und hoffst, daß Himmel und Erde ihren Lauf unterbrechen, damit du wieder lotrecht stehen kannst. Aber es hilft nur eines: sofort einzuschlafen, damit das Karussell im Kopf anhält.“
    Der Nachbar stellte vor Karl ein volles Schnapsglas hin: „Na Prost!, auf einen schönen Dunkopf.“ Beide schütteten sich den Machandel in den Mund. „Das reinste Feuerwasser“, sagte Karl Jeske, „dieser Brand muß gelöscht werden.“ Er hob das Bierglas an die Lippen und trank es bis zur Nagelprobe leer. Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund und fragte so beiläufig seine Bowkes, ob sie mit dem Eislutschen fertig wären. Die hatten ihre Portion schon längst vergessen, ein zweites Eis wäre ihnen gerade recht gekommen. Preußisch sparsam und genügsam, wie sie nun mal erzogen waren, stellten sie aber keine unerreichbaren Ansprüche.
    Die Röcke flogen hoch.
    So bummelten sie weiter. Eine große Bilderwand zog ihre Aufmerksamkeitan. Sie blieben davor stehen. Da waren Figuren anzustaunen, die wie betrunken schwankten, sich verrenkten oder am Boden lagen und sich bemühten aufzustehen. „Wollt ihr dort rein und den Jux mitmachen?“ Die Jungens wollten. Sie drängten zur Kasse, und nachdem die Billetts abgerissen worden waren, schoben sie sich mit den anderen Besuchern durch ein orientalisches Bogentor ins Zelt hinein. Gelächter und hysterische Schreie schallten über eine Holzwand herüber. Die Spannung wuchs und kribbelte im Bauch. Auf einer Rolltreppe fuhren sie hoch zur ersten Etage. Dort betraten sie eine schwankende Gangway. Frische Luft blies ihnen ins Gesicht. „Wie Windstärke zwölf!“ rief ihnen ein Bengel zu. Ha! Der Tulas genoß das Heben und Senken der Gangway, er war ja auch angezogen wie ein Matrose, so richtig mit weißer Bluse, blaugestreiftem Kragen und Schiffermütze von Papier. Aus rechteckigen Spiegeln grinsten ihnen ihre eigenen Gesichter, verzerrt als Fratzen, entgegen; die Körper, breit und lang, sahen aus wie plattgewalzt. Ein runder Spiegel erzeugte ein besonders gemeines Bild: zusammengeschrumpft, auseinandergezogen das Gesicht, hochgezogen zur Birne verformt, sahen sie wie Mißgeburten aus. Plötzlich rotierten unter ihren Füßen blanke Metallwalzen, die drehten sich vorwärts, rückwärts, und einige waren schräg montiert worden. Dadurch entglitten die Füße dem Willen, kamen aus dem Lot, und jeder hatte große Mühe, sich aufrecht zu halten. Wer schon am Geländer hing, versuchte angestrengt, das Gleichgewicht wiederzufinden. Von einer Balustrade aus beobachteten die Besucher diese torkelnden Personen, schadenfroh johlte die Menge los, wenn einer der Besucher seine Glieder verrenkte oder ausrutschte und mit den Beinen strampelnd am Geländer hing. Als sie diese tückische Rollbahn überwunden hatten, traten sie auf ein Gitter, und hier erlebten Mädchen und Frauen eine große Überraschung. Ein starker Luftstrom fegte von unten durch das Raster, und das hatte Folgen. Eine hübsche Marjell, froh, den Rollen entkommen zu sein, betrat leifig das Gitter, und im Nu fegte der Fön unter ihren Rock, blähte ihn auf und schlug ihn bis zur Brust hoch. Schlank und rank stand sie einen Moment in ihrem weißen Schlüpfer da. Beifall klatschte ihr entgegen. Ihre Hände versuchten, den Rock herunterzuziehen. Endlich erreichte sie wieder feste Planken, erst jetzt fiel der Rock über ihre Knie. Kopfschüttelnd, aber mit lachendem Gesicht ging sie weiter, einer neuen Überraschung entgegen. Ein älterer Herr ereiferte sich: „Unmöglich!“ rief er aus. „Das ist ja ehrabschneidend.“ – „Alter Spielverderber!“ rief ihm jemand zu. Aber die Meinungen blieben geteilt. So manches dralle Weib vom Land trug ja keine Schlüpfer, und so ein nackter Arsch löste gemeine oder begeisterte Zurufe aus, beinahe wie beim Fußball. Auch Karl Jeske rieb sich verlegen die Nase. Noch war es nicht üblich, über solche nacktenTatsachen zu sprechen. Der Volksmund drückte sich über Liebe und Erotik so aus: ‘Darüber spricht man nicht, man tut es.’
    Vor dem Ausgang gab es einen Stau. Dort schrie eine korpulente Frau auf einen Türsteher ein, sie machte den dafür verantwortlich, daß die Menge sieohne Unterwäsche gesehen hatte. Der Aufpasser wehrte geduldig ihre Püffe ab und riet ihr, sich beim Direktor oder Pfarrer zu beschweren. Einige junge Leute wurden rabiat und schoben die Frau zur Tür. Die Jeskes drängten mit, sich durch die Menge schubsend gelangten sie ins Freie.
    Die Luft war noch staubiger geworden, und zwischen den Buden stieg das Thermometer bis auf 30 Grad. Dagegen mußte etwas getan werden.Bei der nächsten Bude spendierte Vater Jeske jedem ein Glas mit Waldmeister-Limonade und sich selbst wieder ein kleines Helles. Na, denn mal „Prost!“.
    Danzig von oben!
    Die Welt von oben zu betrachten war nicht die Norm, nur der Ausblick von einem Kirchturm machte einen Blick auf ein Panorama möglich, und dazu mußte man mühsam viele Treppenstufen steigen. Aber auf dem Rummel war es ganz anders. Hier gab es ja ein Riesenrad, so hoch wie ein fünfstöckiges Haus, und ohne sich selbst zu regen, wurde man in die Höhe bewegt. Das wollten sich die Jeskes nicht entgehen lassen. Also wurde eine Gondel gemietet. Sie stiegen ein. Gondel nach Gondel ruckte hoch, denndie anderen Mitfahrer mußten ebenso einsteigen. Aber dieses langsame Anfahren ermöglichte es ihnen, in aller Ruhe den Domnik unter sich und die Stadt bis zum Horizont zu betrachten. Je höher die Gondel gedreht wurde, desto mehr eröffneten sich ihnen Aussichten von ungeahnter Weite und Schönheit. Was unten zwischen den Buden und Karussells so unübersichtlich aussah, war nun deutlich einsehbar und wirkte wie eine Zwergen-Siedlung. Die Tote Weichsel imponierte als breiter Fluß, der weiter im Osten im Dunst verschwand. Über die Breitenbachbrücke fuhr die Straßenbahn nach Heubude zum Strand davon. Am Horizont wölbte sichdie See. Schiffe, klein wie aus der Spielzeugkiste, kreuzten mit unbekanntem Kurs über die Danziger Bucht. Vor dem Holm konkurrierte mit den Kirchtürmen der riesige Schiffskran, bekannt als ‘Langer Heinrich’. Als sie mit der Gondel bis zum Scheitelpunkt vorgerückt waren, schauten sie über die Dächer der Speicher zur Altstadt hinunter. Wuchtig überragte die Marienkirche das Geflecht der Gassen. Schlank und elegant, mit dem goldenen Ritter auf der Spitze des Turmes, grüßte das Rechtstädtische Rathaus herüber. Die Danziger Höhe stellte sich im Hintergrund als grüne Kulisse zur Verfügung. Dieser Anblick über das Panorama ließ immer wieder die Zeigefinger aktiv werden. „Siehst du bei der Kampfbahn Niederstadt die Badeanstalt?“ hieß es dann. „Und weiter hinten das Straßenbahndepot,dort nebenan wohnen wir.“ Ja, das war schon ein fabelhaftes Erlebnis, ein Höhepunkt im wahrsten Sinne des Wortes.
    Die roten Teufel
    Nach diesem Abenteuer in luftiger Höhe tauchten sie wieder in das Gewühl des Rummels ein. Aber eines wollten sie noch wissen: wie die roten Teufel mit ihren knatternden Motorrädern in der Kugel herumsausten. Ganz in der Nähe hörten sie den rauhen Motorenlärm, knallende Fehlzündungen sorgten für wirksame Reklame. Also nichts wie hin und gleich hinein ins Vergnügen. Aus verschiedenen Ländern kamen die Artisten nach Danzig gereist.Diese vier Brüder mit den roten Jacken und Stiefeln waren aus dem Deutschen Reich herübergekommen. Eine Maschine stand auf einem Podest. Der Fahrer ließ den Motor röhren, aufheulen und knattern, das kitzelte die Nerven, das zog die Jungens in den Bann. Also: „Hereinmarschiert! Ha, was kostet die Welt?“ Über eine schwankende Treppe stiegen sie hoch auf eine Balustrade. In der Mitte des Zeltes stand die Kugel, gebaut aus Eisenband-Gittern, so daß jeder von allen Seiten hinein- und durchschauenkonnte. Unten, wo die flachen Eisenbänder zusammenliefen, stand das Motorr ad bereit, die halsbrecherische Tour zu beginnen. Draußen dröhnte die andere Maschine los, der Artist drückte mehrmals die Hupe und verkündete den Neugierigen vor der Rampe, daß er nun in drei Minuten starten würde; das große Risiko, der Ritt auf dem Motorrad in der Todeskugel konnte also beginnen. Hereingekommen, ging der ‘Rote Teufel’ zum Motorrad, seine Hände umschlossen die Lenkerstutzen, dann trat er den Starter durch, die Maschine sprang an, er drehte den Gasring weiter. Im Leerlauf knatterte sie wie eine Gewehrsalve. In der kleinen Rundung schob er die Maschine einige Mal im Kreis herum, sprang in den Sattel und gab sofort Vollgas. Die Geschwindigkeit drückte die Reifen ans Gitter, er schwenkte mit dem Motorrad in die Diagonale, zog die Kreise weiter nach oben bis zur Mitte und raste nun waagerecht einige Runden in der oberen Hälfte der Kugel herum, drehte diagonal ab zur Kuppel, bis er senkrecht die Kugel umrundete.Gespannt bestaunten die Zuschauer den mutigen Artisten, wie der, mit dem Kopf nach unten, durch die Kuppel raste. Langsam drehte der rote Teufel das Gas herunter. Jetzt kam der schwerste Teil, nämlich die Maschine wieder zum mittleren Kreis zu steuern, dabei das Tempo genau einzuschätzen, damit sie nicht abstürzte. Mit einer Spirale landete er schließlich. Der Artist hob triumphierend die Hände hoch, die Leute klatschten ihm zu, und die Jungens schrieen: „Noch mal!“ – einer behauptete frech, daß die Tour für die drei Dittchen zu kurz gedauert hätte. Aber davon waren sie alle überzeugt, daß der Artist hier sein Leben riskiert hatte. „Teufelnoch mal, der Kerl hatte Mumm bewiesen!“
    Augustgewitter
    Die nächste Sensation wartete draußen auf sie. Von Osten zog eine dunkle Gewitterwand herauf. Bedrohlich nahe war sie über der Toten Weichsel angekommen. Eine weiße Taube flatterte vor einem graublauen Wolkenfetzen hin und her, aber plötzlich, wie von einem Faden gezogen schnellte die Taube in die Höhe, verharrte einen Moment auf der Stelle und schwebte danach im weiten Bogen zurück zur Erde, hin zum sicheren Taubenschlag. „Donnerlittchen!“ rief Vater Jeske aus. „Es wird allerhöchste Eisenbahn, bald wird es anfangen zu prasseln, nun aber ab durch die Mitte.“ Das war aber leichter gesagt als getan, denn das Gewühl am späten Nachmittag war noch dichter geworden, und so schoben und drängelten sie sich durch die Menge, bis sie beim Langgarter Tor die Straße erreichten. Eigentlich wollten sie mit der Straßenbahn fahren, aber daraus wurde nichts. Am Domnik vorbei fuhr die Linie 4, die kam vom Ostseebad Heubude, vollbesetzt mit heimkehrenden Badegästen, und sofort stürmten junge Kerls, solche richtigen Luntrusse, die Lor, sie zu entern. Es wäre also nicht möglich gewesen, einen Platz zu ergattern. Also nichts wie los, und die Beine in die Hand genommen. Im Laufschritt überquerten sie die Straße. Bis zur Bastion Ochs liefen sie um die Wette. Vater Jeske hatte diesen Dauerlauf durchgehalten, aber jetzt mußte er nach Luft schnappen, er verpustete sich. Vor der Bastion Ochs, dem alten Festungswall, standen die ersten Mietshäuser der Niederstadt. Davor, also zwischen der Straße und der Wallanlage lag das Gleis einer Industrie-Bahn. Die Jungens balancierten auf den Schienen und hüpften von einer Schwelle zur anderen, so kamen sie spielend voran. Gerd, unser Jungchen, nahm Anlauf und erstürmte den Wall. Oben blieb er eine Sekunde stehen, ließ sich rückwärts fallen, nutzte den Schwung aus, drehte sich dabei um die eigene Achse, er überließ sich der Schwerkraft, sein Körper stellte sich schräge und wollte abstürzen, aber seine kleinen Füße wirbelten so schnell gegen den Damm, daß er den Fall unterlief, wippend bewegte er die Arme, als wenn er segelte, und dazu jauchzte er: „Ich bin eine Taube!“ Eine Gewitterböe fegte gegen die Hauswände. Wäsche plusterte sich auf und zerrte an der Leine. Erschrocken schaute eine Frau aus einem Fenster. Blitze durchzuckten die dunkle Wolkenwand. Irgendwo knallte eine Tür gegen den Holzrahmen. Hastig verschloß die Frau ihr Fenster. Eine Oma schlurfte zur Leine und nahm die Wäsche ab. Noch einmal rannte das Jungchen auf den Wall. Auf der anderen Seite wehte der beginnende Sturm geschnittenes Gras in den Mottlau- Umfluter, kleine weißköpfige Wellen ritten gegen das Ufer an. Die langen, geschmeidigen Gerten der Trauerweide peitschten ins Wasser. Oben auf dem Wall stemmte das Jungchen sich gegen den kühlen heftigen Wind. Oh, er liebte solche frische Brise, sie kam von weit her und nahm seine Fantasie mit auf die Reise. Ein Bündel Blitze züngelte über Groß Walddorf herunter. Ein harter Krach, mit nachfolgendem Donnergepolter, erschütterte die Atmosphäre. „Drüben hat es eingeschlagen“, stellte er fest. Bald würden die gefährlichen Blitze sich über der Vorstadt entladen, also, jetzt nichts wie weg. Er rannte den anderen hinterher und an der Ecke Weidengasse holte er sie ein. In der Mitte der breiten Weidengasse, neben den Straßenbahnschienen, war eine Allee angelegt worden. Der einsetzende Regen trieb sie unter das Blätterdach. Freche, aufgeregte Spatzen balgten sich um einen dampfendenHaufen Pferdeäpfel. Noch störte der Regen sie nicht. Schon war das Marienkrankenhaus zu sehen. Eine Regendusche huschte über das Kopfsteinpflaster. Es roch nach Staub und feuchtem Laub. Plötzlich öffnete ein heller Blitz mit gewaltigem Donnerschlag die Wolkenschleusen. Mit eingezogenem Kopf liefen sie die letzten Meter bis zur Grodeckgasse, in der Nr. 5 stieß ihr Senior die Tür auf, hier waren sie zu Hause. Prustend und sich das Wasser abschüttelnd standen sie im Treppenhaus und sahen auf die herabströmenden Regenmassen. Die Kreuzung zum Hühnerberg verschwand in einem kleinen Teich. Trockenen Fußes kam da niemand mehr rüber.
    Flinsen mit Blaubeeren
    Von der zweiten Etage rief ihnen Mutter Jeske zu: „Das Essen ist fertig! Nun kommt schnell rauf. Es gibt Mehlflinsen mit Blaubeeren.“ Diese Worte zündeten. Die Jungens sprangen die Stufen hoch, immer zwei auf einmal nehmend. Domnik und Flinsen, das war eine Danziger Spezialität. Das paßte zusammen: Wie Blitz und Donner, wie der Domnik im August.

  2. #2
    Forum-Teilnehmer Avatar von Inge-Gisela
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    Standard AW: Augustgewitter. Auf dem Domnik

    Herr Jeske,
    es macht Freude, Ihren Bericht zu lesen. Vielen Dank. Den Ausdruck Flinsen kannte ich auch aus meiner Kindheit, hatte ihn aber später selbst nicht mehr benutzt, ihn kennen heute ja auch nicht mehr so viele, denke ich mal. Bei einigen Wörtern kommt einem die Kindheit mit den Eltern wieder ins Gedächtnis. Und mein Vater hatte seine frühen Jahre in Danzig und Ohra verbracht. Später beruflich teilweise auch noch. Ich selbst habe erst viel später Danzig durch eine Reise kennengelernt.

    Lieben Gruß

    Inge-Gisela

  3. #3
    Forum-Teilnehmer Avatar von JuHo54
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    Standard AW: Augustgewitter. Auf dem Domnik

    Hallo Gerhard,
    war für mich sehr interessant zu lesen. Besonders " Flinsen" fielen mir ins Auge, dachte ich doch immer, diesen Ausdruck hätte mein Vater aus Potsdam ( Berlin) mitgebracht, wo er aufgewachsen ist, Dass das ein Ausdruck aus Danzig war, der Geburtsstadt meines Vaters und meiner Oma, war mir bisher nicht bewusst. Bei uns zu Hause wurden sie mit Erdbeermarmelade gegessen oder Zimt und Zucker.
    Liebe Grüße
    Jutta
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    Artur Schopenhauer* 1788 Danzig

  4. #4
    Forum-Teilnehmer Avatar von JuHo54
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    Standard AW: Augustgewitter. Auf dem Domnik

    Nachtrag für alle , die den Begriff nicht kennen, wahrscheinlich hier wenige ???
    Flinsen sind Pfannkuchen, Pfannkuchen waren aber bei meinem Vater das , was wir gemeinhin "Berliner" nennen.
    Liebe Grüße
    Jutta
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    Artur Schopenhauer* 1788 Danzig

  5. #5
    Forum-Teilnehmer Avatar von Fischersjung
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    Standard AW: Augustgewitter. Auf dem Domnik

    Hallo,
    mit Pfannkuchen bzw. Berliner, runde Kugelform, gehe ich nicht ganz mit.
    Der Teig mag bei dem einen oder anderen gleich gewesen sein, aber.....
    Flinsen waren bei uns in Fett gebackene handtellergroße etwa 2cm große Scheiben aus Hefeteig.

    Guten Appetit
    Viele Grüße von Joachim

  6. #6
    Forum-Teilnehmer Avatar von Fischersjung
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    Standard AW: Augustgewitter. Auf dem Domnik

    ....2 cm DICKE Scheiben aus Hefeteig
    Viele Grüße von Joachim

  7. #7
    Forum-Teilnehmer Avatar von Inge-Gisela
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    Standard AW: Augustgewitter. Auf dem Domnik

    Bei uns waren die Flinsen nicht ganz so hoch :-), füllten aber den Boden der Pfanne aus.

    Inge-Gisela

  8. #8
    Forum-Teilnehmer Avatar von JuHo54
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    Standard AW: Augustgewitter. Auf dem Domnik

    Hallo Joachim,
    ich denke , wir haben beide recht. Flinse steht für "runder Fladen" und der kann sowohl aus Hefeteig bestehen als auch wie ein "normaler" Pfannkuchen sein. Für Hefeteig braucht man bekanntermaßen etwas länger und ein " normaler" Pfannkuchen ist schnell zubereitet. Man Vater verwendete auch den Ausdruck "Kartoffelflinsen" und meinte damit Reibekuchen...
    Liebe Grüße
    Jutta
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    Artur Schopenhauer* 1788 Danzig

  9. #9
    Forum-Teilnehmer Avatar von JuHo54
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    Standard AW: Augustgewitter. Auf dem Domnik

    P.S. siehe auch hier Wolfgangs Beitrag:
    http://forum.danzig.de/showthread.ph...rtoffelflinsen
    Liebe Grüße
    Jutta
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