Nach meinen Erinnerungen an die Rosengasse möchte ich noch etwas weiter berichten.Wir Danziger sind ja nicht einfach vom Erdboden verschwunden, sondern alle, die das Inferno überlebt haben,sind irgendwo angekommen.
Angekommen
Angekommen?
Nach endlosen Tagen im offenen Viehwaggon. Wann der Tag war, dass wir uns am Bahnhof einfinden mussten, weiß ich nicht mehr. Irgendwo in eine Ecke gequetscht, zwischen Rucksäcken und Menschenhäuflein kauerten auch wir in diesem rollenden Verschlag. Unsere Eltern und wir fünf Kinder. Wenn der Zug hielt, dann wusste man nie wie lange. Manchmal stundenlang. Viele sprangen runter und versuchten, etwas Essbares zu finden. Einmal hielt der Zug kurz, eine Frau sprang ab, weil sie mal musste, der Zug fuhr an. Der Mann blieb im Zug. Er hat furchtbar geschrien , aber der Zug rollte weiter. Er rollte über die Oder. Langsam, stockend. Unter uns konnte man das Wasser sehen. Panik kam unter den Erwachsenen auf: Wir sollen hier versenkt werden, so wurde gebangt.
Irgendwann war Berlin erreicht.
Sammelstelle für die Vertriebenentransporte.
Irgendwo gab es Suppe. Und oft kamen meine Geschwister mit der leeren Kanne – morgen wieder anstellen. Hunger, nichts als Hunger. Einmal brachte mein Vater ein Kastenweißbrot. Andächtig hat jeder eine Scheibe im Mund zergehen lassen.
Ob es auch eine Statistik gibt, wie viele Menschen noch in diesem Lager verhungert sind?
Mein Vater hatte nur noch einen Gedanken: Raus, egal wohin.
So brachte uns der nächste Transport nach Magdeburg.
Magdeburg- das ist die Börde. Da ist fruchtbares Land, da gibt es zu essen. So tröstete uns unser Vater.
Ankunft wieder in einem nächsten Verteilungslager. Wolmirstedt Pferdefuhrwerke brachten ihre Menschenladungen in die Dörfer.
Abends wurden wir im letzten Dorf abgeladen. Wo hin mit denen? fragte der Kutscher. Am besten gleich auf den Friedhof, war die vielleicht spaßig gemeinte Antwort des Begleiters.
Ein Bördedorf.
Ackerbauern. Höfe und Häuser hinter dicken Mauern. Wir wurden zugewiesen.
Wir bekamen schnell mit, dass wir nicht erwünscht waren.
Meine Mutter ermahnte uns, dass wir ja immer höflich grüßen, wenn wir über den großen Flur mit der schönen Holztreppe in unsere Dachkammern gingen. Ich war so bemüht, dass ich der alten Bäuerin immer wieder einen guten Tag wünschte, bis sie mir sagte:“Einmal am Tag, Kind, das reicht.“ Diese alte Dame war freundlich zu uns, ihr Mann hatte kein Herz. Er konnte ungerührt in der Stube am Tisch sitzen, ohne dass auch nur ein Stückchen für uns abfiel.
In dieser Einquartierung verbrachten wir den Winter. Das Leben begann, sich in festen Bahnen zu bewegen .Die Straßen wurden vertraut. Inzwischen besuchte ich auch die 1.Klasse.
Ich ging gern zur Schule. Lesen konnte ich schon in Danzig. Dort lernte ich nämlich ganz beiläufig, wenn mein Bruder mit der Mutter übte. Aber mit der Aufmerksamkeit haperte es sicher öfter, denn ich erinnere mich, dass ich oft vom Lehrer erschreckt wurde, wenn er mit dem Stock auf den Tisch haute, weil ich wieder mal geträumt hatte. Dann fuhr ich zusammen, und der Lehrer ermahnte mich, besser aufzupassen.
Mit einer Begebenheit, die ich schon mal erwähnt hatte, will ich nun diesen Abschnitt beschließen.
Es war im März 1946.
Der Winter- ich brauche es nicht näher zu beschreiben- es war furchtbar kalt,
wenige Sachen, die wir aus der Heimat mitgebracht haben; also Frieren angesagt.
Natürlich waren wir trotzdem draußen. Spielen konnte man ja wunderbar auf einem
Börde- Bauernhof. Und so waren wir bis zum Dunkelwerden draußen, am liebsten auf der Darre, da wurde Korn oder Leinen gelagert, glaube ich. Zwischen den Garben konnte man sich gut verstecken. Aber es zog. Und ich bekam eine Ohrenentzündung.
Anfangs jammerte ich, mit Wärme war es nicht zu beheben. Schließlich wurde ich
schon fast apathisch, und meine Mutter musste schnellstens ein Fuhrwerk
besorgen, damit ich zu einem Arzt gebracht werden konnte. Mit dem Pferdewagen
nach Magdeburg rein. Zu Dr. Harnisch am Hasselbachplatz.. Sofort ins Krankenhaus! Er selbst operierte mich. Fast wäre es zu spät gewesen. Nach sechs Wochen war ich wieder zu Hause, aber auf einem Ohr taub.
Und noch eine Erinnerung daran: meine Mutter tauschte ein ganzes Brot gegen eine
Puppe, um sie mir mitzubringen.
Meine Gesellschaft dort waren nur Männer, denen ein Bein, ein Arm oder auch beide Gliedmaßen fehlten.
Ja, so war es.
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Christa.