Artikel in "Unser Danzig", Heft Nr.2 vom 16.01.1957, Seite 8:
Erinnerungen an Ohra
von Wilhelm Bartsch
Die Vororte Langfuhr und Oliva sind viel gepriesen und oft genannt. Wir Ohraer hatten in Danzig neben den Bewohnern von Schidlitz ja auch unseren besonderen Ruf. Der „Ohrche Bowke“, dem das Messer lose in der Tasche sitzen soll, ist ein Begriff. Und doch waren wir Ohraer besser als unser Ruf. Wir waren eben rauh, aber herzlich. Was nun unser Ohra angeht, so brauchen wir durchaus nicht bescheiden zu sein. Früher waren wir neben Langenbielau in Schlesien das größte Dorf im Königreich Preußen, so sagte es wenigstens mein Vater, und der musste es ja wissen. Wir Ohraer haben unsere Selbständigkeit auch ziemlich lange bewahrt, erst im Jahre 1928 erfolgte die Eingemeindung in die Stadt Danzig.
An meinem jetzigen Wohnort Mannheim fiel mir ein Buch eines alten Mannheimers in die Hand, der als Soldat unter Napoleon mit einem badischen Regiment nach Danzig kam. Dieser brave Grenadier hat in Altschottland im Quartier gelegen und fiel Weihnachten 1811 in den Radaunekanal, aus dem ihm sein Wirt mit einem Bootshaken herausfischte. In seinen weiteren Ausführungen beschreibt dieser Soldat die Schönheit der Landschaft und die Gastfreundschaft seiner Bewohner. Der Unterschied zwischen Preußen und Polen sei auch ohne Grenze deutlich festzustellen, und er werde immer an die lieben Menschen dieses Landes denken. Auch nach der Niederlage Napoleons ist er durch Westpreußen gekommen und hat hier stets Hilfe und Unterstützung gefunden.
Dieser Bericht gab eigentlich den Anlass, auch über Ohra etwas zu schreiben, bin ich doch in diesem Vorort aufgewachsen und habe dort bis zur Vertreibung gelebt. Dicht an unserem Wohnhaus war das Lokal „Zur Ostbahn“, und ich höre noch den Krach der Matrosen aus meiner Kinderzeit, wenn sie den Bahnhof stürmten, um den Zug nach Neufahrwasser zu erreichen. Noch in der Freistaatzeit kamen viele ehemalige Matrosen aus dem Reich, um ihr altes Lokal noch einmal zu besuchen. Ohras Glanzstück war ohne Zweifel der Hoenepark. Meine Mutter hat mir oft von Fräulein Hoene erzählt, aus einer Zeit, als dieser Park noch nicht der Öffentlichkeit zugänglich gewesen ist. Damals sei die Besitzerin in schlichter Einfachheit herum gegangen. Als sie den Park der Stadt vermachte, schenkte sie durch diese Tat unzähligen Menschen Freude und Erholung. In dem Wohnhaus im Hoenepark soll ja einst der russische Marschall Münich gewohnt haben, als er Danzig belagerte. Eindrucksvoll war der uralte und gewaltige Lindenbaum neben dem Haus. Es bedurfte schon einer Anzahl von Männer, um ihn zu umfassen. Seine gewaltigen Zweige waren mit Eisenbändern zusammengehalten, und in seinem Schatten ließ es sich gut sitzen. In den beiden Teichen stimmten die Frösche ihr Konzert an, an ihren Ufern wuchsen sonderbare Pflanzen, und allerlei Getier schwamm im Wasser, für uns Kinder eine unversiegliche Quelle von neuen Entdeckungen. Wer gut zu Fuß war, kletterte auf die Berge. Der eine Berg bot einen wunderbaren Ausblick in die Danziger Niederung. Bei klarem Wetter war die Dirschauer Brücke sichtbar und mit einem Glas wohl auch die Marienburg. Auf diesem Berg waren sieben große Steine; wenn ich mich nicht täusche, wurden sie Siebenschläfer genannt.
Durch den Park floss die „Beek“, so nannten wir den Bach. Er kam aus einem Tal. Verfolgte man den Bachlauf, so gelangte man nach Schönfeld. Ein herrlicher Spaziergang war es entlang dem Bach mit seinen Kurven, und ihn auch an seiner breitesten Stelle zu überspringen war immer unser Ehrgeiz. Da ging es ohne nasse Schuhe und Hosen manchmal nicht ab. Doch wir wollen nun den anderen Berg besteigen. An seinem Anfang lag die „Faule Grete“. Das war eine mit Moos besetzte Mädchenfigur aus Stein. Manche hielten sie für eine Figur der alten Preußenzeit. Doch meine Mutter wusste es genau. Die faule Grete wurde von ihrer Mutter mit irgendeinem Auftrag fortgeschickt. Sie war aber zu faul und legte sich unter einen Baum. Ein Blitz hat sie dort getroffen, und sie versteinerte. Die Schlussfolgerung einer solchen Belehrung war dann immer, nicht so faul zu sein, wie dieses Mädchen, sonst würde einen das gleiche Schicksal ereilen. Kurz vor der Bergspitze lag ein riesenhafter Findling, in dem der Heimatverein Ohra eine Tafel zum Gedenken an den „Deutschen Tag“ in Ohra angebracht hatte. „Wir wollen deutsch und einig sein“ hieß seine Inschrift. Daran sollten wir als deutsche Heimatvertriebene heute noch denken, denn deutsch zu sein bedeutet ja leider oft, uneinig zu sein und in Zwietracht zu leben. Von diesem Berg bot sich nun eine gute Aussicht auf Ohra, und die Züge der Holmbahn sahen klein und winzig aus.
Neben dem Hoenepark lag das Hoenewäldchen, außerhalb des Parks. Hier konnten wir nach Herzenslust Ritter und Räuber und Indianer spielen, niemand war da, der dort etwas verbot, und viele Hosen sind beim Herunterrutschen von den Bergen entzweigegangen. Vom Hoenewäldchen war der Ausblick auf Danzig wirklich ein Erlebnis. Die brave Radaune floss zu unseren Füßen vorüber. Eigentlich ist es ja der Radaunekanal, angelegt vom deutschen Ritterorden, um die Mühlen in Danzig zu betreiben. Sie hatte es eilig, die gute alte Radaune oder auch „Kolatsch“ in Ohra genannt. Sie war auch sehr auf Sauberkeit bedacht. In jedem Jahr wurde sie abgelassen und von allein Dreck gesäubert. Mit großer Spannung warteten wir, wenn die Radaune abgelassen wurde, denn das war für uns die Zeit, Fische zu fangen und nach Dingen zu suchen, die sich auf ihrem Grund verbargen.
Jeder Danziger und Besucher von Danzig wird mir bestätigen, dass ein Spaziergang entlang dem Radaunedamm von Danzig nach Guteherberge eine Delikatesse gewesen ist. Unter blühenden Kastanien ging der Weg auf dem Damm über Altschottland-Stadtgebiet nach Ohra. Wer müde war, konnte in Ohra im Cafe Kirchberger eine Pause machen, sich die Affen ansehen und dann weiter nach Guteherberge wandern. „Dreischweinsköpfe“ hieß das Lokal. Auch über diesen Namen gibt es eine Sage. Bei einer Belagerung wurden drei Schweinsköpfe zum Feind herüber geschossen und dieser zog dann ab, da er sich sagte, wenn die noch mit Schweinsköpfen schießen können, sei die Belagerung zwecklos. Kurz vor „Dreischweinsköpfe“ war das Ferberhaus. Ein Landhaus der Patrizierfamilie Ferber aus Danzig, baulich ohne Zweifel eine Sehenswürdigkeit. Im Wappen der Ferber befanden sich drei Eber-(Schweins-)Köpfe.
Wer den Weg von Guteherberge nicht auf dem Radaunedamm zurück machen wollte, bog in Ohra am Kreuzweg ab nach Niederheid. Hier war der Gemüsegarten von Danzig. Eine lange freundliche und saubere Dorfstraße, links und rechts Bauernhäuser. Das Land war hier flach und lag teilweise wohl unter dem Meeresspiegel. In alten Zeiten ist hier noch das Haff gewesen, das von Samland bis nach Ohra reichte. Bei Ausgrabungen fand man ja in Ohra noch ein altes Wikingerschiff. Im Niederfeld lag auch das Johannisstift, ein im Jahre 1852 von Wichern gegründetes Waisenhaus, während das Magdalenenasyl, ein Heim für gefährdete Mädchen, gegründet 1891, in der Südstraße stand.
Die evangelische Kirche in Ohra hieß die „Sankt-Georgs-Kirche“. Die alte Ohraer Kirche wurde 1807 mit dem Ort Ohra bei der Belagerung durch die Franzosen zerstört. Aus meinem Konfirmandenunterricht habe ich noch in Erinnerung, dass die Ohraer nach Zerstörung ihrer Kirche lange Jahre in die Katharinenkirche nach Danzig gehen mussten. Erst 1823 wurde die neue Kirche durch die Förderung Königs Friedrich Wilhelms III. von Preußen fertiggestellt. Wie oft haben wir von ihrem Turm an Advent und zur Konfirmation den Posaunenchor vernommen. Hierbei sei auch der Pfarrer Kleefeld und Paul gedacht, die Jahrzehnte in Ohra tätig gewesen sind. Zum Kirchspiel Ohra gehörten auch die Dörfer Nobel, Guteherberge, Borgfeld, Matzkau und Schönfeld, woher die Bauern mit ihren Kutschen oder Schlitten zur Kirche gefahren kamen. Unsere katholischen Mitbürger gingen in die „Sankt-Ignatius-Kirche“ nach Altschottland, die wirklich eine Sehenswürdigkeit war. Ihr hölzerner Turm stand nebenbei und ich habe einmal mit „Brunchen“, jedem Ohraer ein Begriff, wenn er mit seinen weißen Handschuhen die Kirchentür bei Hochzeiten öffnete, in diesem Turm die Glocken geläutet.
Durch die Rosengasse in Ohra ging ein schöner Weg den Mühlenweg entlang zur Mottlaubrücke. Die alte Windmühle und die ganze Landschaft könnten auch in Flandern oder den Niederlanden zu finden sein. Die Weidenbäume lieferten unsere Stöcke und Osterruten. Einmal saß ich mit meinem Vater am Grabenrand und musste ein Geburtstagsgedicht lernen. Mein Interesse galt aber nicht dem Gedicht, sondern den Fröschen im Graben. Da erhielt ich mit meinem eigenen Stock eine Abreibung und siehe da, bald konnte ich das Gedicht aufsagen.
Herrlich war es im Winter, wenn die Wiesen unter Wasser standen und gefroren waren. Schlittschuhlauf und auch Eissegeln ließ uns oft die Heimkehr vergessen. Das Eissegel war dann meist nur der offene Schägert. Im Frühling stellten wir den Kibitzen nach, und der Storch, der gegenüber der Bahn auf einer-Scheune sein Nest hatte, stelzte in den Wiesen herum und flog dann mit einem dicken Frosch davon.
' So war unser Ohra, eingebettet zwischen Radaune und Mottlau, mit seinem schönen Park, seinen Hügeln, seinen Bauernhäusern, seinen Feldern und Wiesen, seiner fleißigen Arbeiter- und Bauernbevölkerung. Wie es heute dort aussieht, kann ich nicht sagen, denn seit dem Jahre 1943, als ich zuletzt als Soldat dort in Urlaub gewesen bin, habe ich Ohra nicht mehr gesehen. Die Ohrchen Bowkes sind wie weiland die Kinder Israel überall verstreut. Ich weiß nicht, ob es mir recht gelungen ist, ihnen allen mit diesen Zeilen die Heimat etwas nahe zu bringen. Vielleicht aber müssten wir alle über unsere engere Heimat berichten, um die Erinnerung denen zu vermitteln, die die Heimat nicht mehr kennen, die aber, so Gott will, sie einmal wiedersehen sollen oder neu dort einen Anfang machen. Mag darüber noch so viel Zeit vergehen - „Ohrches Blut vergeht nicht“.
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Viele Grüße aus dem Werder
Wolfgang