Schönen guten Nachmittag,
wo hört die Welt auf? Besser gefragt: Wo hört Westeuropa auf, wo fängt der Wahnsinn unserer "Nachkriegsordnung" an?
Nach meinem Empfinden an der russischen Grenze. Und das wird besonders deutlich, wenn man die alte Frische Nehrung von Bodenwinkel (Katy Rybackie) über Vogelsang (Skowronki) nach Kahlberg (Krynica Morska) und dann bis Neukrug (Piaski) fährt.
Die Frische Nehrung ist ein schmaler Landstreifen der das Frische Haff von der Ostsee trennt. Auf ihr führt die alte Nehrungsstraße zwischen den Dünen hügelauf und hügelab mitten im Nehrungswald Richtung Osten. In Neukrug hört die Straße auf und es endet -dieser Eindruck entsteht- die westliche Zivilisation.
Nach Neukrug führt eine Sackgasse, eng, schlaglochübersät. Eine Straße, die jedoch bereits im Frühling zum Träumen verleitet. Nach Sommer, Wärme, nach Gerüchen die an Kiefernharz, die See, an Pilze erinnern. Kurz vor Neukrug dann ein Blick auf das Frische Haff. Hinunter auf das Wasser, durch Kiefern hindurch, auf einen langgezogenen schmalen Streifen weißen Sandbadestrandes.
Aber das alte Neukrug ist nicht mehr. Es ist eine Sackgasse, eine Sackgasse in jeder Hinsicht. Hierher kommen nur Wenige. Die, die sich verirren und jene, die etwas mit Neukrug zu tun haben und nicht davon lassen können. Es gibt noch ein paar alte kleine geduckte Häuschen, Backstein, ziegelrot, Fensterläden. Man muss nach ihnen Ausschau halten. Sie sind ein wenig versteckt, nicht sofort zu finden.
Gestern, am Sonntag, geschäftiges Treiben im kleinen Fischereihafen. Unmengen kleiner Heringe sind angelandet. Sie werden auch im Frischen Haff gefangen. Vielleicht zwanzig Zentimeter groß das Durchschnittsmaß. Sie werden aus den vollen Booten herausgepumpt. Ein Saugrohr befördert sie auf die Hafenmole, von dort aus auf einen Sortiertisch an dem vier Fischer stehen, und dann werden sie in einen etwa einen Kubikmeter fassenden Plastikcontainer befördert.
Es gibt nicht nur Heringe hier. Auch Wildschweine. Nicht ganz so viele wie Heringe, aber in der Ortseinfahrt fordert ein großes Plakat auf, keine Wildschweine zu füttern. Sie kommen trotzdem, spazieren ohne Scheu auf der Dorfstraße.
Fischer fahren in ihren kleinen Booten wieder auf das Haff. Es ist Ende April, bald Mai, Heringshochsaison. Hunde streunen im Hafen herum. Ein kleiner weißbrauner Mischling versucht angestrengt, meine belgische Schäferhündin zu besteigen. Sie ist nicht interessiert, schnappt immer wieder nach dem hinkenden Rüden. Weitere Hunde schleichen sich müde an. Wir sind am Ende der Welt, hier hört Westeuropa auf, hier fängt der Wahnsinn unserer "Nachkriegsordnung" an. Wir sehen es, wir fühlen es, wir haben ein wenig die Orientierung verloren.
Man kann sich hier weiter durch Wald und Gestrüpp schlagen. Da wo der Fahrweg aufhört zu Fuß durch den Wald. Und plötzlich, wenn man nicht aufpasst, ist man in Russland. Wenn man erwischt wird -und die Chancen dafür stehen nicht schlecht- landet man im Knast. Das ist das frühere Ostpreußen, das heutige Russland, unsere Nachkriegsordnung. 67 Jahre danach.
Wir sind hier wirklich am Ende Westeuropas. In einer Sackgasse. Kaum einer fährt hinein, und hinaus werden vielleicht einige verhungerte Heringe gebracht. Auf gar keinen Fall aber der auch hier entstehende Müll. Gibt es eine Müllabfuhr? Ich glaube nicht. Denn wer sich östlich des Hafens auf einen kleinen Haffstrandspaziergang einlässt, stolpert über Berge von Müll und Abfall die auf den Strand und ins Wasser geworfen wurden.
Es stimmt wehmütig, die Folgen des Krieges auch heute noch so unmittelbar zu sehen und zu fühlen. Was könnte sein, wenn... ?
Mitten im Hafen ein kleiner Steg der zum Leuchtfeuer führt. Ein Blick über das im Dunst liegende Haff zeigt das nahe Frauenburg. Dazwischen Stellnetze, einige Fischerboote.
Über uns "ostpreußischer" Himmel. Blau, kontrastreiche Wolken, ein Himmel wie auch in Masuren.
Ich gehe noch einmal zur Fischpumpe, schaue mir die Heringe an. Aber sie sind mir zu klein, es ist zu viel Arbeit, sie auszunehmen, zu putzen, sie zu braten und einzulegen. Was wird aus solchen Hungerheringen gemacht? Man kann sie kiloweise für ein paar Groschen kaufen.
Wer am Frischen Haff ist, Natur liebt, und dazwischen auch einmal ein Stück Wahnsinn erleben will, sollte die schlaglochübersäte Straße nach Neukrug fahren. Es stimmt wehmütig, ist aber trotzdem lohnend.
Viele Grüße aus Prinzlaff im Danziger Werder (von hier aus sind es auf der Straße 50 Kilometer nach Russland)
Wolfgang