Gerhard Jeske 22547 Hamburg copyr.
19. 11. 2014
Advent beim Schuster,
Danzig Poggenpfuhl 1941
Der Tag verlor sein Licht, gegen halb vier dämmerte der Nachmittag ein. Die Straßenlaternen wurden wegen der Verdunklung nicht angeschaltet und die Schaufenster in der Langgasse boten, vor den schwarzen Vorhängen, einige Weihnachtsartikel an. Hinter der großen Glasscheibe bei der Firma Michel, Papier und Bürobedarf, erregte ein breites Kriegsbild eher Abscheu. Es zeigte einen konstruierten Granattrichter, aus dem ein Soldat, mit ausholendem Arm, eine Handgranate fortwarf, um den Feind zu töten. „Friede auf Erden“ Wo war der geblieben? Beim Kaufhaus Sternfeld drückte sich Gerd, unser Danziger Bowke, seine Nase an der Scheibe platt um die vorbeifahrenden Züge der großen Modelleisenbahn zu bestaunen.. Jemand schuppste ihn in den Rücken. „ Mach Platz, Dicker, wir wollen auch noch zugucken, bevor es duster wird“ Langsam aber sicher drückte ihn so ein Luntrus zur Seite. Na ja, er wollte sowieso nach Hause, bis zur Kolonie Sonnenland in Großwalddorf, auf der anderen Seite des Mottlau-Umfluters, musste er vierzig Minuten schnellen Schrittes gehen. Er raffte sich zusammen und peste los, Am Rathaus stoppte er und überlegte. ob er über die Mottlaubrücke gehen sollte und weiter über die Speicherinsel, bis zum Thornschenweg. Zwischen den Speicher zu laufen gruselte ihn, er bog nach rechts in die Matzkausche Gasse ein. Gleich um die Ecke war das Reparatur Geschäft für Schreibmaschinen. Die Continental Maschinen und andere Monster musterte er im Vorbeigehen. Aber in der Strasse Poggenfuhl, vor der Petri Kirche, wechselte er zur anderen Straßenseite rüber, er ging bis zum Haus des Bonbonkochers. Noch immer lagen hinter dem Schaufenster die grünen, roten oder gelben viereckigen Zucker- Klötze, so groß wie Glückswürfel, etliche waren aufgeschichtet zu Pyramiden. „ Die sind aus Glas“ hatte Lothar ihm erklärt“ Das konnte sein, schon wegen der Sonne, die würden bestimmt glitschig werden und zusammenfließen. „ Pflastersteine“ nannten sie die Lutscher.
Unten, an der Ecke zum Thornschen Weg, sah er wie sich die Dunkelheit zwischen den Bäumen der Schokoladenfabrik Sarotti verdichtete. Schneereste schimmerten dazwischen, Wie ausgebreitete weiße Stofffetzen wurde dadurch der Kontrast, wie bei einer schwarz- weiß Graphik, verstärkt. . Noch wollte es nicht so richtig winterlich werden. Nach drei Tagen würde der Türmer den zweiten Adventsonntag einblasen. Schnell musterte er die grauen Fassaden der alten Häuser aus der Kaiserzeit. Der Monarch war Geschichte geworden, die Häuser waren geblieben und alle Mieter, große und kleine, verlebten weiter so ihren gewöhnlichen Alltag bis? Ja das sollte er bald merken, dass mancher von ihnen aufgescheucht wurde und sich fragte, warum dieses Unheil über ihn hereinbrach, das seine Anwesenheit hier beendete
Er bog in den Thornschenweg ein und ging bis zur Aschbrücke, die überquerte den Mottlau-Kanal, der als Bassin den Güterbahnhof flankierte, so dass aus dem langen Schuppen die Waren in Frachtkähne verladen werden konnten. Am Ende des Bassins sah er im Dunst die Häuser vom Trumpfturm und am Ufer den Bootsschuppen. Die Ruderboote waren im Schuppen winterfest gelagert und warteten auf den nächsten Frühling. Vor dem Schuppen war er vor dem Bootsteg durchs Eis gebrochen. Diese kalte Wasser Dusche hätte ihm beinahe das Leben gekostet. zum Glück gelang es Heiner und Siegfried ihn schnell auf den Steg zu ziehen. Die doppelte Lungenentzündung dauerte danach viel länger, wie er sich jetzt erinnerte, waren es zwei Monate gewesen, den langen Winter über.
Links sah er die Hopfengasse, die durchquerte die Speicherinsel. Einige Pferdefuhrwagen klapperten über das Kopfsteinpflaster. Bis zur Thornschen Brücke erwärmte er sich im Dauerlauf. Als er auf der Brücke stehen blieb, pustete er weißen Dunst aus dem Mund. Rechts an der Ecke des Thornschen Weges begann der Steindamm. Unten im Eckhaus sah er die Apotheke von –Knochenhauer-. Aber oben in der dritten Etage wohnte der Prokurist vom Pudding Oetker. Der Sohn war sein Jungscharführer, eingebildet und herrschsüchtig. Letzte Woche traf sich die HJ-Jungschar vor der Bastion Maidloch. Wie ein Kegel lag diese Festung vor der Steinschleuse. „ Stürmt die Festung“ brüllte der Jungscharführer. Die Pimpfe liefen, krochen und pusteten den Hang hoch. Oben bauten sie sich in Reih und Glied auf. Nur einer fehlte. Es war „Hotte“ der Bowke vom Hühnerberg. Der erschien von der anderen Seite, winkte mit der Hand und rief „ Kuckuck, Kuckuck schalt es überm Damm“ Fuchsteufelswild schrie der Jungscharführer ihn an. „ Das melde ich dem Bann. Verstanden?“ „ Ja“ brummelte Hotte vor sich hin. „ Was heißt hier „Ja“ das heißt „ Jawoll, kapiert“ „ Na, Jawoll, Herr Jungscharführer“ der Jungscharführer stutzte. „ Das Herr kannst Du dir sparen“ rief er erbost zurück. „Das meine ich auch“ sagte der Apothekersohn. Wütend geworden ließ er die Jungens stramm stehen, wartete eine Weile ab und beendete, den Dienst.
Als er die Ecke Groddeckgasse erreichte, bimmelte die Straßenbahn der Linie fünf die Fahrt ab. Das Geläute klang wie Musik in seinen Ohren. Über die Kreuzung zum Hühnerberg sprang er in langen Sätzen hinweg, aber nicht des Verkehrs wegen. Mein Gommas wann war hier das letzte Auto hinübergefahren. Am Ende des Hühnerberges, der kein Berg war, sondern eine normale Straße, kunterbunt gemischt mit alten, kleinen Häusern und den Mietskasernen der Wilhelminischen Zeit, hörte die Stadt auf, es begann die alte Festungsanlage , die Bastion Aussprung. Der Weg führte zwischen zwei Festungskegeln hoch zum Damm und danach runter zur Holzbrücke über den Mottlau - Umfluter, dem Festungsgraben. Die hölzerne Brücke war ungefähr 30-40 Meter lang und so breit, dass nur zwei Personen nebeneinander gehen konnten. Radfahren war auf ihr verboten, solange wie kein Polizist in der Nähe war. Aber er hatte hier noch keinen Schien gesehen. Auf der anderen Seite peste er nach links zum Schilfgürtel, dann den Damm hinunter, ging den schmalen Weg durch das sumpfige Schilf und gelangte bis zur Kreuzung Groß und Klein Walddorf. Er bog links ab. Vor der Pforte zur Kolonie Sonnenland überholte er Elfi. Die Familie wohnte nur fünf Häuser von ihnen entfernt im Vergißmeinnichtweg. Elfi, eigentlich Elfriede mit Namen, drückte sich gegen seine rechte Seite. Er stupste sie mit dem Ellbogen ab. Sie ließ sich nicht fortdrängen.„ Ich friere“ sagte sie und steckte ihre linke Hand in seine Jackentasche. Dort bewegte sie flink ihre Finger. „ Hör doch auf damit“ schimpfte er. „ Das tut man so, Gerdchen, Du hast davon keine Ahnung“ meinte sie Elfi drückte die Gartenpforte zu ihrem Grundstück auf, lief einige Meter zum Haus hin, drehte sich um und zeigte ihm eine lange Nase. „Das hat man nun davon- dachte er. Zu Hause deckte seine Mutter gerade den ovalen Tisch im Wohnzimmer. Während des Abendmahls sagte sie beiläufig.“ Morgen musst Du die kaputten Schuhe zum Schuster bringen, der wohnt in der Straße Poggenpfuhl. Er nickte zustimmend. Damit war das Thema beendet.
Gerd nahm die Schuhe im Tornister mit zur Schule: Ihre Schule in der Schleusengasse wurde ein Lazarett jetzt mussten die Schüler von der Niederstadt bis zur Lastadie latschen, aber das machte in diesem Fall keinen weiten Umweg aus, im Gegenteil, die Lastadie lag vor dem Poggenpfuhl. Neben der Schule stand die Petrikirche, der Pumpengang trennte die beiden Gebäude. Er war so breit, dass eben ein normales Fuhrgespann hindurch fahren konnte. Die Schüler hatten Schichtunterricht. Gegen zwei Uhr bimmelte die Klingel die letzte Stunde für seine Klasse ein. Um drei hopste er die Stufen hinunter, spurtete über den Pumpengang zum Poggenpfuhl und bremste erst das Tempo ab, als er kurz vor dem Thornschenweg angekommen war. Da verpustete er sich. Dann ging er über die Straße, suchte den Namen an einer Haustür aus, fand ihn aber erst im Flur des nächsten Hauses am Briefkasten. Zweite Etage links, da sollte er klopfen. Die Tür öffnete sich, ein zehjähriger Junge öffnete die Tür. Er trat ein und wünschte der Familie einen guten Abend. Im großen Zimmer, rechts in der Ecke, vor dem großen Fenster, saß der Schuster auf seinem Schemel und behämmerte eine Sohle auf einem Schuh, der auf einen Leisten aufgestülpt war. In der Mitte des Raumes stand der große Esstisch, an der linken Wand ein breites Bett, indem sicher zwei Kinder schlafen konnten. Nun merkte er, dass drei Kinder ihn neugierig beäugten. Den Zehnjährigen kannte er schon, neben ihm stand ein Knabe von neun Jahren und dann das achtjährige Mädchen, strohblond mit Sommersprossen auf den Wangen. Ein Wildfang. Nachdem er die zwei paar Schuhe überreicht hatte, wollte er gleich den Besuch beenden. Dazu kam er nicht. Plötzlich hörte er aus der linken Ecke, hinter sich, Musik. Da stand ungefähr 1,20 hoch, ein Grammophon. Und die Platte dudelte das Lied vom weißen Flieder ab. Das Mädchen zog Gerd mit ihrer kleinen festen Hand zum Leierkasten. Er fing an die Kurbel zu drehen, dabei tanzte das Mädchen, auffällig gewandt, um das Grammophon herum. Nun folgte ein Lied dem anderen, zum Beispiel:“ Veronika der Lenz ist da“ Dabei war es inzwischen Dezember geworden. Die Mutter hatte an dem Adventskranz ein Licht angezündet. Sofort änderte sich das Programm. Es ertönte ein Lied in einer fremden Sprache, dann verstand er etwas von einer himmlischen Königin. Und schließlich“ Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart.“
Zweimal wollte er das Lied hören, wobei er sich wunderte, warum ein Ross aus einer Wurzel entsprungen sein sollte. Ein leiser Pfiff vom Schuster beendete die Vorstellung.„ Am Mittwoch kannst du die Schuhe abholen“ sagte er. Begeistert begleiteten ihn die Kinder bis zur Haustür, Das Mädchen rief ihm etwas nach, was er nicht verstand. Na, macht nichts. Schleunigst eilte er nach Hause.
Am nächsten Mittwoch stieg er, wieder gegen fünfzehn Uhr die Treppe zum Schuster hoch. Das Mädchen zog ihn an der Hand in die Stube. Er riss sich los und ging zuerst zum Schuster, der holte die Schuhe unter dem Tisch hervor, nannte den Preis und nach dem Gerd sechs Reichsmark hingelegt hatte, wollte er noch etwas zurückgeben, „Das Stimmt so“ sagte er. Seine Mutter hatte ihn eingeschärft kein Kleingeld anzunehmen. Dann grabbelte er drei Äpfel aus der Tasche vor und wollte sie an die Kinder verteilen, aber die Mutter war schneller, Sie nahm die Äpfel an sich und meinte, dass die Äpfel zur dritten Adventsfeier am Nachmittag auf den Teller kommen. Gerdchen wurde herzlich eingeladen am Sonntag um sechzehn Uhr bei ihnen zu erscheinen.- Und dann hatte das Grammophon den Vortritt. Einige Schlager hörte er zweimal an. „Was macht der Maier am Himalaya;“ Das gefiel ihm besonders gut.
. Der Abend stand grau vor dem Fenster. Die Verdunklungsvorhänge wurden zugezogen. Die Kinder begleiteten ihn bis an die Tür. Die Kleine fragte.“ Du kommst Sonntag, Ja? Er nickte ihnen zu und polterte die Treppe hinunter.
Am Sonntag hatte er sich den weißen Pullover übergezogen und sogar die lange Hose, die mit der Bügelfalte. Das graue Jackett angezogen, die Joppe darüber und die Wollmütze auf dem Kopf, so tigerte er davon, um seinen Besuch beim Schuster und seine Kindern zu machen. Im Leinenbeutel ruhten die drei Äpfel und ein halber Napfkuchen. Mehr gaben die Lebensmittelkarten nicht her.
Es hatte geschneit. Die weiße Schneedecke überzog die Stadt mit einer ruhigen friedlichen Stille. Vor der Haustür klopfte Gerd den Schnee von den Schuhen ab. Dann eilte er hoch Advent zu feiern. Er klingelte. Er klingelte wieder. Niemand öffnete die Tür. Dann schlug er mit der Faust dagegen. Einmal, zweimal. In seinem Rücken hörte er eine Frau sagen, dass der Schuster nicht mehr hier wohnt. Blitzschnell drehte er sich um „ Wieso? Was ist passiert? „ Ja, kleiner Prenter, die mussten ausziehen“ „ Wohin“ fragte er. Die Frau drückte langsam die Tür ins Schloss. Ratlos stand er im Flur, sofort rannte er nach Hause. Atemlos kam er dort an. „Warum bist Du so gerannt, wollte Dich ein Hund beißen“ Er druckste herum, schließlich sagte er, dass der Schuster ausgezogen ist. „ Ich habe es geahnt,“ flüsterte seine Mutter. „ „Warum“ frage er . „ Warum, Warum? Weil sie Polen sind! Und das werden nicht die letzten sein, die unsere Stadt verlassen müssen“. Gerd legte die drei Äpfel auf den Tisch und den Kuchen dazu. „ Morgen kannst Du das alles zu Tante Roschen bringen, für ihre Kinder, uns ist der Appetit darauf vergangen.“ Gerd packte alles wieder zurück in den Beutel und stellte ihn in die kühle Veranda. Dort blieb er eine Weile stehen und sah hinauf zu den Sternen, aber Trost konnte er bei ihnen nicht finden.