Moin,
zum zweiten Mal zu Besuch bei Anec in Zoppot. Er war mit seinen Eltern aus Ostpolen, heute Ukraine, geflüchtet, wurde 1945 in dem Haus einquartiert, das ab 1935 meinem Onkel gehörte hatte und wohnt dort noch heute. Anec und die Familie meines Onkels pflegen Kontakte seit den 70-er Jahren.
Anec zeigt mir alte Karten von Danzig und dem Werder. Dann kommt er mit einem 1,5 cm dicken Aktenstapel an: Pässe, Ausweise, Diplome, Ernennungen und Anerkennungen unterzeichnet von einem gewissen Adolf H., Ordensverleihungen, polizeiliche Anmeldungen, Arbeitszeugnisse, ein handschriftlicher Stammbaum bis 1730 und vieles mehr. Sie stammen von einer Familie Tsch. Anec’s Story: Russen zerschossen 1945 im Keller die Warmluftheizung. Als man diese reparierte fand man in Belüftungsrohren unter dem Haus die Dokumente. Anec meint, sie gehörten dem letzten Eigentümer des Hauses. Aber allmählich kommen wir darauf, dass mein Onkel mit der Familie 1942 nach Bromberg zog und das Haus an die Familie Tsch. vermietete.
Wir sichten, photographieren und scannen die Dokumente. Ein Leben eröffnet sich: Tsch., in Schlesien geboren, macht an der Uni Stuttgart seinen Diplomingenieur, heiratet in Tübingen, arbeitet in den 20-er Jahren bei verschiedenen Strassenbauunternehmen, tritt 1933 in die öffentliche Bauverwaltung in Schlesien ein, zeugt drei Töchter, zieht 1938 nach Danzig-Langfuhr, nach Kriegsausbruch offensichtlich zurück nach Schlesien, nimmt am Krieg im Sudetenland teil. Anfang 1942 stirbt die Ehefrau bei der Geburt des vierten Kindes. Drei Monate später melden sich Tsch., seine drei Kinder und ein Kindermädchen polizeilich in Zoppot an.
Vor der Flucht im Februar 1945 hat Tsch. die Dokumente in den Heizungsröhren versteckt. Seitdem hat sich niemand von der Familie Tsch. gemeldet. 65 Jahre lang grübelt Anec darüber nach, ob die Familie vielleicht mit der Gustloff untergegangen sei…
Der Name Tsch. ist selten. In Deutschland. Wir vereinbaren, dass ich mich auf die Suche mache.
Im Internettelefonbuch gibt es 60 Tsch., davon 56 mit vollständiger Postadresse. Die 56 Adressen kopiert, eine Datenbank erstellt, einen Serienbrief 56 mal ausgedruckt … und 56 Briefmarken aufgeklebt (Gott sei Dank selbstklebende, gelobt sei der Fortschritt!).
Zwei Tage später die ersten Antworten. Nein, mit dem Tsch. habe man nichts zu tun. Zwei weitere Tage später ein aufgeregtes Mail: Das könnte der Enkel von dem Bruder des Uronkels … und so weiter. Auf jeden Fall zur Großfamilie gehörig. Dieser Tsch. ist sehr an dem Stammbaum interessiert. Über die Familiengeschichte gäbe es ein ganzes Buch. – Ich stelle die Stammbaumseiten ins Netz zum Download.
Am nächsten Tag ein Anruf: Sein Sohn habe ihn über das Schreiben informiert und er sei der Sohn von Tsch. Sohn? Wo war da ein Sohn? Da waren doch nur Töchter. Allmählich wird klar, das vierte Kind, bei dessen Geburt die Mutter verstorben ist, hat überlebt. Nein, niemand in der Familie habe von den Dokumenten gewusst. Die Flucht sei damals geglückt, aber Vater Tsch. erlag Ende April 1945 in München den Verletzungen, die er durch eine verirrte amerikanische Bombe erlitten hatte.
Mit Anec telefoniert. Irgendwann war mal leicht durchgeschimmert, ob man einen Teil der Dokumente nicht auf dem Markt verhökern könnte, es gäbe da Sammler. Aber nein, von dem Sohn von Tsch. wolle er kein Geld, er gäbe die Dokumente so zurück … falls der Sohn von Tsch. sie denn auch wirklich haben wolle.
Und nun träume ich von jemanden, der Dokumente meiner Familie findet … oder vielleicht auch das vergrabene Familiensilber …
Beste Grüsse,
Rainer MueGlo